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Sich und andere finden

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Wo fängt man am besten an? Und wo, wenn man einmal angefangen hat, unterbricht man die Kette der Überlegungen, das Zuviel, die Überbestimmung zu vermeiden? Denn es ist nicht leicht, dem Leben eines Mannes gerecht zu werden, der derart vielfältige und scheinbar gegensätzliche Tätigkeiten zu vereinen vermochte. Wer weiß zum Beispiel Genaueres über seine Verdienste als Verleger? (Ernst Lothars Roman „Der Engel mit der Posaune“ etwa war einer der Bestseller dieses Verlages). Wer überblickt wirklich die Reihe seiner Inszenierungen, von denen manche Preise erhielten? Wer, der ihn als Lyriker kennt, vermutet in ihm den gewandten Publizisten? Wer, der seine Biographien und Einführungen in Werkausgaben gelesen hat, verbindet damit das pikante Detail, daß zahlreiche der Arbeiten dieser Autoren von ihm angeregt worden sind? Wer, der ihn von seiner langjährigen Arbeitsstätte her kennt, gibt sich Rechenschaft darüber, daß dieser Mann Arbeiten von Canetti, Broch, Musil, Grab und Gütersloh in seiner Zeitschrift zum erstenmal veröffentlichte; und dies lange, bevor diese Schriftsteller zur Legitimation der literarischen Avantgarde geworden waren? Wo also fängt man am besten an, wenn man nicht ohnehin bereits mittendrin ist? Denn schon die Aufzählung der verschiedenen Aktivitäten hat erkennen lassen, daß sie nach zwei Richtungen

verlaufen. Die schöpferischen, eigentlich kreativen Tätigkeiten mit dem Drang nach Verinner-lichung werden von den mehr nach außen gewandten Initiativen ergänzt, die einen ausgeprägten Hang zum Sammeln und Sichten, zum Bewahren, zum Konservativen erkennen lassen. Beiden Haltungen liegt eine Wertsuche zugrunde, ein beinahe elementarer Antrieb, das als beständig und gültig Erkannte ordnend zusammenzufassen, es im Gedicht, in der Zeitschrift, in der Anthologie zugänglich zu machen oder durch den Essay zu erschließen. Geradezu programmatisch übernimmt der Lyriker den Auftrag der Vermittlung, die hier freilich in Meditation umgesetzt wird, unmittelbar aus dem Gedicht spricht und auf den Leser überspringt. Zur erlebbaren Form geworden ist, was im Leben selbst offen blieb, was durch unzählige Wirbel und Stromschnellen hindurchgegangen ist, was an die Ufer gespült wurde: Spurpunkte einer nicht immer geradlinigen Entwicklung. Während sich die neuere literarische Konfektion in immer neuen Exzentrizitäten überbietet, schlie-

ßen sich Dichten und Denken von Ernst Schönwiese immer enger um die Frage der Selbstformung und Selbstfindung. Sie gilt ihm als die entscheidenste angesichts eines Prozesses radikaler Ver-dinglichung, der selbst das kritische Denken der Gegenwart ergriffen hat; sie setzt er dem drohenden Wertzerfall als Regulativ entgegen. Allerdings geschieht dies nicht im Sinne einer Therapie, in deren Verlauf Mittel zur Heilung der Erkrankung angewandt werden, sondern als Suche nach dem noch Heilen in uns und in unserer Gesellschaft. Diese Suche hat ihn zur Mythenforschung, zur Religionswissenschaft und zur Tiefenpsychologie gebracht und ist zur Sinnmitte seines Dichtens geworden. Gehe ich zu weit, wenn ich sage, daß für Ernst Schönwiese Dichtung eng mit Religion zu tun hat? Und darf noch etwas angefügt werden? NämHch, daß in seinen Gedichten religiöse Motive und wissenschaftliches Denken aufeinandertreffen, sich ergänzen und bedingen, ja zu einer neuen Einheit umgeschmolzen werden. Freilich handelt es sich dabei nicht um Interpretationen bestimmter

Glaubenslehren, um Exegesen von konkreten Inhalten einer Konfession. Die Symbolik seiner Gedichte ist weitaus allgemeiner, stößt aber in einzelnen Bildern bis in innerste, vergessene Bezirke des Seelischen vor und löst Erinnerung aus, Unruhe und manchmal auch schöpferische Überraschung. Diese Rückerinne-rung, diese Rückführung des Menschen an seinen Ursprung, dieser Brückenschlag zwischen zwei scheinbar getrennten Daseinsbereichen, ist ihm zum Zentralmotiv für Dichtung schlechthin geworden.

Aber nicht nur für Dichtung allein. Wie stark die Kommunikation zwischen den einzelnen Tätigkeitsbereichen, zwischen den mehr nach außen wie den nach innen gerichteten Aktivitäten tatsächlich ist, zeigt Schönwieses Arbeit als Herausgeber einer Literaturzeitschrift. Für mich ist dieses „Silberboot“, dessen erster Jahrgang 1936 erschienen war, zu einem Modellfall dieses immer bewegten Menschen geworden. Nicht nur, daß er unmittelbar nach Kriegsende dort fortsetzt, wo ihn die politische Entwicklung zur Unterbrechung gezwungen hat, und damit bereits halbvergessene Literatur zur Stunde Null hinüberrettet, sondern auch die um Tagesmode unbekümmerte Eigenart der Redigierung weisen exemplarisch auf die Geschlossenheit und Einheit der Lebensringe. Von welchem Standort immer man sich ihnen auch nähert: der Zugang zur Mitte ist offen.

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