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Wanderzirkus im Süde

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Warum es gerade im Süden sein mußte? Ich weiß es nicht. Zufall, der dem Wandernden leichter entgegenkommt als dem Seßhaften: Ja, vielleicht Zufall.

In Sisteron war es, das ich kennenzulernen ersehnte, seit ich die berückenden Bilder von dem großartigen amphi-theatralischen Aufbau dieser einzigartigen Stadt gesehen hatte. Traumhaft nah erschienen mir im Geiste Tag um Tag die grotesken Felsgestaltungen, an denen sie emporwächst, schmal und grau, ein Haus über dem anderen, bis zur Höhe der Zitadelle, hoch über der grünsilbernen Durance. Nun habe ich den Fluß von seinen Ursprüngen im Gebiete des Mont Genevre verfolgt und will ihm noch weiter folgen bis an seine Mündung in die Rhone.

Und so stehe ich wirklich da, nachdem ich den ganzen Tag auf diesen herrlichen Landstraßen der Provence gewandert bin. Aber davon will ich jetzt nicht erzählen, sondern von dem kleinen Zirkus, der sich im Grunde des Kirchenplatzes von Sisteron aufgestellt hat, einem dieser primitiven Wanderzirkusse mit Zeltdach und Wagen, die einst die ganze holde Romantik unserer Jugend ausmachten, und die jetzt allmählich selten geworden sind. Etwas vom geheimnisvoll Anziehenden des Zigeunerhaften webt um sie.

Eine schief angelehnte Tafel verrät mit Kreideschrift das Programm. 120 Francs kostet der Eintritt. Das ist erschwinglich. Warum also, denke ich, soll der Wanderer nicht dem Wandernden die Ehre erweisen? Um halb neun Uhr ist der Beginn angesagt. „Cirque Felter“ prangt in gotischer Schrift stolz auf der Draperie in der Höhe üher dem Eingang und über der Kasse. Um halb acht Uhr ist alles noch im Dukel. Nichts gibt nur im entferntesten zur Vermutung Anlaß, daß heute noch eine Vorstellung zustande kommer. soll.

Eine halbe Stunde später ist die ganze Breitseite des Zirkus von elektrischen Lampen erhellt. Kinder halten den Rand des Podiums besetzt und schlenkern mit den Beinen in der Luft. Da und dort stehen in winzigen Gruppen Menschen beisammen, sehen hin, lesen das Programm mit gemachter Interesselosigkeit und gehen wieder weiter. Bald ist der Platz aufs neue leer. Nur die Kinder haben Geduld und ich. Wir bleiben. Da tritt ein junger Mann mit Kappe und Halstuch an die Rampe. Er schmettert aus einem Horn den Einladungstusch. Nichts rührt sich, nirgends ... Also vertreibt er einstweilen die Kinder von den Stufen. In wenigen Minuten kommt ein zweiter Bläser. Beide blasen jetzt in die nächtliche Weite ihr aufmunterndes „Kommt herbei!“. Es muß in ganz Sisteron wider-hallen.

Zögernd kommen ein paar Leute näher, sehen und hören ungläubig und gehen wieder weiter. Eine kräftige Dame, aber eng geschnürt, mit nicht reizlosem Gesicht, tritt in die Kasse, über ihrem Haupt bringt sie eine Bogenlampe an. Die Bläser schweigen. Sie ladet das Publikum, das entweder gar nicht oder nur spärlich wie im geheimnisvollen Dunkel der Nacht vorhanden ist, zum Näherkommen ein. Ihre hohe Fistelstimme übertönt das Geschrill ihrer kleinen Klingel. Menschen treten heran, lesen die Tafel: „Dressur, Freiheitsakt...“ Keiner wagt es, einzutreten. Soll ich den Mut aufbringen, als erster über die Holzstufen zur Kasse hinaufzupoltern? Da wird mit einem Male die Arena auch von innen erhellt. Durch die abgenutzte grüne Zeltwand leuchtet es sympathisch.

Jetzt wird noch einmal geblasen — man fürchtet niemanden aufzuwecken in Sisteron — und endlich bewegt sich unter den Stößen der Trompeten ein kleines Männlein über die Treppe zur Kasse. Er ist der erste, der es wagt. Doch das Eis ist noch lange nicht gebrochen. Es dauert noch eine Weile, bis ein anderer nachkommt. Vielleicht gehört der erste selbst zum Zirkus. Der Trick schadet nichts. Denn jetzt versucht es einer und noch einer — und mit einem Male haben es die Leute eilig. Ich bin unter den ersten in der kahlen Arena. Die Bänke haben keine Lehnen. Jeder wählt sich den besten Platz. Es gibt nur einen Einheitspreis. Mancher vertauscht noch rasch seinen besten Platz mit einem noch besseren. Bis plötzlich alles besetzt ist.

Für einen Augenblick tritt Stille ein. Dann ertönt ein mächtig langanhaltender Ton einer großen Mistbauerglocke. Die dicke Dame verläßt die Kasse. Sie trägt sehr stolz mit wichtiger Gebärde die Bogenlampe, die zur Beleuchtung der Kasse gedient hat, in die Mitte der Manege, befestigt sie dort an einem Seil und zieht sie längs des Mastes hoch. In vollem, strahlendem Licht beginnt das Schauspiel. Ein Tusch der Drehorgel, die von einem jungen Mädchen bedient wird. Die Frau Direktor — sie war die Kassedame und die Lichtspenderin — verläßt mit starken Schritten aufrecht die Manege. Ein türkisch schön gestickter Vorhang wird zur Seite geschoben.

Ein Mädchen, eine blonde, gewandte Schönheit, präsentiert ein mächtiges Pferd. Von der Satteldecke glitzern die Initialen des Zirkus. Das Mädchen sitzt und steht abwechselnd auf dem Rücken des Pferdes, vollführt ihre Reiterkunst-stücke mit einer Eleganz, die man unter diesem armseligen Zelt nicht vermutet hätte. Ein rosa Trikot kleidet ihre nicht überschlanke Gestalt vortrefflich. Clowns kommen hereingewatschelt, drei ältere und ein höchstens vierzehnjähriger, der auf den Namen Haricot (Bohne) hört. Sie glossieren die hübsche Reiterin, sie müssen es. Und sie lädielt ihnen zu, stellt allen drei Fallen, während sie voltigiert, und läßt sich zum Schein fangen. Da sie, noch im Galopp, die ersten Applaussalven des Hauses empfängt, legen die eilfertigen, rücksichtslosen Wurstel schon Teppiche auf für die nächste Nummer.

Die Clowns sorgen für verbindende Unterhaltung zu allem Folgenden. Ihre Kunst ist überraschend ursprünglich, sie sind dabei tapsig zum Gesundlachen. So spannen sie das Seil für die Seiltänzerin, und schon benützen sie diese Gelegenheit zu einer lustigen Szene. Der Vater erklärt dem Knaben, das Seil sei der Telephondraht, er stehe an' der einen Seite, das sei Paris, der Sohn auf der anderen, das sei Bordeaux. Nun geht es ans Telephonieren. Der Junge ist schrecklich schwer von Begriffen. Der Vater ruft ihn an: „Hallo, wo bist du?“ Die prompte Antwort lautet: „In Sisteron.“ Nach eindringlicher Erklärung durch den geduldigen Vater beginnt das Sp.iel von vorne.

Der Sohn telephoniert. Aber er kann nicht verstehen, warum der Vater in Paris ist. Und so geht es weiter zwischen den beiden in ewigen Mißverständnissen. Natürlich unter schallendem Gelächter der Zuhörer. Zuletzt freilich — welches Wunder! — klappt doch alles.

Schließlich kommt die Pferdedressur der dicken Dame an die Reihe. -Es geht alles vortrefflich. Ja, das Pferd springt zuletzt durch einen Reifen von nicht mehr als anderthalb Meter Durchmesser. Putzig legen die Narren die Malratzen auf und leiten den schwierigen Balanceakt mit ihren Purzelbäumen ein. Plötzlich schwingt von der Höhe des Zeltes ein Trapez, und ein Mädchenleib hängt mit dem Kopf nach unten an diesem gefährlichen Brett. Noch zwei Leiber hängen sich an ihren und das Ganze schwingt in schöner Symmetrie und unerhört aufregend. Die ornamentale Figur wirft fliegende gespenstige Schatten über die gespannten Gesichter der Zuschauer.

Das Besondere der Leistung liegt in der schönen Harmonie des Zusammenspiels aller. Ensemblekunst ist es, gerade das Gegenteil dessen, was man im Zirkus erwarten würde. Der Trapezakt ist das Glanzstück. Nun wünschen die Clowns allen eine angenehme Nachtruhe. Es ist Mitternacht geworden. Der Strom der Zuschauer drängt durch den schmalen Ausgang auf die Rampe und über die Stufen, die zuerst keiner hinauf wollte, hinab. Man darf unter einem sternhellen wirklichen Himmel aufatmen. Die Nacht ist klar und erquickend nach der Hitze des Tages. Es war schön und rührend zugleich, das Schauspiel in der mitternächtigen fremden, kleinen Stadt, es war ebenso wie zu Hause, kindlich und großartig und ein empfängliches Herz bezaubernd.

Am nächsten Morgen aber bin ich weitergezogen auf einer dieser schönen

Landstraßen der Provence, und auch mein kleiner, ärmlicher Zirkus hat wohl woanders wieder sein Zelt aufgeschlagen, in einer anderen kleinen Stadt, bei anderen einfachen, unverbildeten Menschen, um sie in einer anderen dieser südlichen Nächte für ein paar Stunden zu vergnügen.

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