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Werktreue als Erlebnis

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In der 23. Folge der „Furche" hat Dr. A. Liess die Frage der Werktreue in der heutigen Aufführungspraxis der alten Musik behandelt und dabei den Standpunkt vertreten, daß diese .„dem modernen Empfinden“ anzupassen sei. Möge zuerst ein Beispiel aus der bildenden Kunst die Gefahren zrigeS, die diese Einstellung in sich birgt:

„Sie müssen es selber schon bemerkt haben, daß unsere Kirche so ziemlich unordentlich aussieht alle Wände über und über mit elenden Bildergemälden, ohne alle Symmetrie behängen, und die Altäre mit Täfelchen, grotesken Figuren und mancherlei bizarren Verzierungen überhäufet Ich dächte, wir ließen die Kirche ausweißen, um mit guter Art alles, was den guten Geschmack beleidigt, der religiösen Würde zuwider ist, und nur die Andacht zerstreuet — zum Tempel hinauszubringen.,,. Was die Altäre betrifft — so dächte ich, wir ließen statt der hölzernen Figuren in einem mehr als gothischeiji Geschmacke — das schlechteste Schnitzwerk, das je ein barbarischer Pfuscher gepfuscht hat — überall ein Altarbild mahlen Wie will ich mich freuen, wenn diese plumpen Gesichter mit großen Bausbacken, verzerrten Lineamenten, schiefen Hälsen weggeräumt sind! “

Wenn aber nicht einmal Kunstwerke aus Stein und Eisen vor Veränderungen nach der Mode sicher waren, um wie viel mehr war die Musik diesen Wandlungen unter werfen. Und ebenso wie man heute im Dehio lesen kann: „Mörschwang, Pfarr-

Freundschaftliche Briefe; Ein Pendant zu den vertrauten Briefen eines Geistlichen in Baiern (Anonymus), München 1790, bei J. B. Strobel. Pag. 31.

kirche, urkundlich 1130.,. Hochaltar 1702 Statuen 1510 Tabernakel 1823 Seitenaltäre 1670, Kanzel Ende 18. Jahrhundert“, so müßte man in so manchem Konzert sagen; „Fuge von J. S. Bach: Phrasierung von instrumentiert von usw." Dabei gilt dies keineswegs für die „Alte Musik“ allein; auch .Musik, die uns viel näher liegt, hatte darunter zu leiden. Ich erinnere nur an Bruckner! Nicht die Musik forderte dies, sondern „das Bearbeiten“ war eine modische Folgeerscheinung der „befreiten Individualität“ des 19. Jahrhunderts.

Ich habe das Glück gehabt, daß einige Komponisten für mich Cembalokompositionen geschaffen haben, deren Entstehung ich zum großen Teil genau verfolgen konnte. Es seien hier als äußerste Gegenpunkto nur Richard Strauß und rin junger Kompositionsschüler der Staatsakademic genannt. Allen aber war eines gemeinsam: eine absolut eindeutige Vorstellung von der Interpretation. Stets wird mir mein erstes persönliches Zusammentreffen mit R. Strauß in Erinnerung bleiben. Ich spielte ihm mit einem Geiger seine Violinsonate vor. Strauß lobte uns sehr und sagte dann so nebenbei zu mir: .Aber seh’ns, die Stell hab ich mir anders vorg’stellt" und spielte sie mir selbst vor.

Wenn ich die Ansicht von Dr. Ließ recht verstehe, hätte ich Strauß antworten müssen: „Ja, verehrter Meister, Sie haben sich dies Stelle im Jahre 1887 so vorgescellt, ich muß sie aber mit meinem seelischen Empfinden des Jahres 19.. spielen.“ Die lange Lebenszeit dieses Meisters läßt schon bei seinen Werken die Frage nach der Definition des Begriffes „alt“ in der Musik auftauchen. Dieser Begriff ist, wie auch sonst im Leben ein sehr relativer. Je nach dem Kreis des kritischen Publikums kann ebenso der ehemals heißgeliebte Schlager „Ramona“ wie sogar die Musik eines J. Marx und eines R. Strauß dieses Adjek- tivum erhalten. Ja es ist mir selbst sogar passiert, daß mich im Verlaufe eines Gespräches ein bekannter Musikgelehrter einmal lächelnd korrigierte: „Aber, Sie spielen doch keine alte Musik! Sie müßten einmal mittelalterliche Chansons • zum Vortrag bringen!“ Genau so wie mir R. Strauß und mit ihm jeder kultivierte Mensch so eine Äußerung als grobe Verletzung der Ehrfurcht vor dem Werk übel genommen hätte, muß ich jede willkürliche Veränderung der Aufführungspraxis der „Alten Musik“ (es ist vermutlich die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts gemeint) zum Zwecke der Anpassung an das moderne seelische Empfinden ablehnen. Wenn auch niemand mehr sagen kann: „Das hat mir Bach so vorgespielt“, so gibt es doch eine reichhaltige schriftliche Überlieferung. Warum soll man diese nicht zu Rate ziehen?

Freilich, vieles im Musizieren der Zeit des Barocks war dem Ausführenden wissentlich und mit Absicht freigestellt. Unter anderem die Instrumentwahl, was heute gerne als Augenfälligstes bemerkt wird. Wer aber wagt es, in das Gebiet der Improvisation und Ornamentik einzudringen? Dort aber liegt das Kernproblem dieser Musik! Wer erfüllt heute die Forderung, da capo Arie, zu verändern, wer spielt je variierte Wiederholungen, veränderte Reprisen, wer kennt die unzähligen Kapitel in den Lehrbüchern der Zeit, die immer wieder den Musiker zur freien Phantasie und Ornamentik ermahnen, da’ sonst alles schal und leer klinge. Sogar viele Notenbeispiele dieser Technik der „Diminution“ oder „Zierpraxis“ finden wir in den alten Büchern!

Ich verlange von meinen Schülern in der Akademie stets zumindest den Versuch einer selbständigen Ornamentik, und sie merken es sehr bald, daß mit Lisztschen Arpeggien oder Ghopinschen Fioritusen, aber auch mit den Melismen der heutigen Moderne nichts getan ist. Bald suchen sie selbst nach den alten Regeln, und ich kann kaum genug „gedruckte Beweise“ herbeischaffen, „daß es wirklich so“ gemacht wurde. In dieser Art der Werktreue liegt für die jungen Menschen das Erlebnis, und ich höre es fast in jeder Unterrichtsstunde, daß die Interpretation dieser Musik viel reizvoller sei als die der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts, wo man immer nur das spielen dürfe, was genau in den Noten stehe.

Meistens aber wird als Werktreue „nur" das genaue Wissen tim die in die Hunderte gehenden kleinen Ornamentzeichen mitleidig belächelt. Es ist ein sehr bequemer Standpunkt, mit unseren armseligen, heute noch in Gebrauch stehenden fünf Verzierungsformeln auszukommen. Im Gegensatz dazu wird die richtige Ausführung dieser kleinen „Zärtlichkeiten der Melodie“ selbst zum Erlebnis. So habe ich zium Beispiel noch kein einziges Mal Bachs cis-mol 1-Präludium aus den Wohltemperierten Klavier mit richtiger Ausführung der autographen Verzierungen gehört. Geschieht das wirklich alles nur unserem heutigem seelischen Erlebnis zuliebe? Wie viele Vorbehalte und Dissonanzen entstehen überhaupt erst durch die richtige Ausführung der Manieren. Dieser erhöhte Sp annu ngsreich tu m müßte doch eigentlich der heutigen seelischen Grundhaltung der Menschen adäquat sein!

Ich habe in meinen Konzerten für Kenner und Liebhaber immer die Werktreue Wiedergabe als meine vornehmste Pflicht erachtet. Wenn ich dieses Wort ausspreche, dann bedeutet dies für mich auch die Beachtung aller Regeln einer Zeit, die zuweilen minutiöseste Genauigkeit, zuweilen größte Freiheit erfordert. Immer aber gibt es für meine Wiedergabe nur eine Richtschnur: Die Geisteshaltung der

Entstehungszeit eines Werkes.

Die Verwendung der größten Werke der Weltliteratur zur Demonstration seelischer Geisteshaltungen des Augenblickes überlasse ich jenen Künstlern, denen ihr geistiges Innenleben wichtiger als die großen Sdiöp- fungen einer großen Vergangenheit erscheint.

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