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„Orpheus“

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Immer wieder lockt der Orpheusmythos zu musikalischer Gestaltung. Die erste eigenständige Oper, der „Orfeo“ von Monteverdi, wurde bereits 1607 aufgeführt. Seither ist der Stoff — über Gluck bis herunter zu Offenbach — immer wieder behandelt worden. In neuester Zeit erfreute sich besonders das Werk Monteverdis hoher Wertschätzung. Von zeitgenössischen Komponisten seien nur Malipiero, Carl Orff und Krenek (L’Incoronazione di Poppea) genannt, die Monteverdi bearbeiteten und erneuerten. Diese Bearbeitungen waren vor allem deshalb notwendig, weil Monteverdi eine Reihe alter Instrumente verwendet, die’ es im modernen Orchester nicht mehr gibt, wie Doppelharfen, Lauten, Chitarronen und andere. — Aber es war weniger das musikhistorische Interesse, das sich dem Werke des ersten großen Opernmeisters zuwandte, als vielmehr die tiefsinnige Fabel und die edle Schönheit der Musik des „Orfeo“. Hinzu kommen Stileigentümlichkeiten dieser vorklassischen Musik, die sich mit den Bestrebungen der zeitgenössischen Komponisten berühren.

Erinnern wir uns an die „Pulcinella-Suite“ nach Pergolesi, an die Oper „Ödipus Rex auf einen lateinischen Text Jean Cocteaus, an „Apollon Musagete“ und die Kammermusikwerke aus dieser Zeit, so wird uns klar, daß Strawinskys Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Antike und den Formen der vorklassischen Musik mehr bedeutete,i, als Konzessionen an den Zeitgeschmack. Hier hat eine wirkliche Assimilation stattgefunden-, über welche uns der Komponist selbst in einem Bekenntnis zum klassischen Ballett unterrichtet, zum klassischen Ballett, „welches in seinem Wesen, durch die Schönheit seiner Ordnung und durch die aristokratische Schönheit seiner Form am vollkommensten meiner Kunstauffaesung entspricht. Denn hier im klassischen Ballett sehe ich triumphieren: die kunstvolle Konzeption über die Abschweifung, die Regel über das Willkürliche, die Ordnung über das Zufällige. Ich komme hiemit, wenn man es so aus- drücken will, auf den ewigen Gegensatz in der Kunst zwischen dem apollinischen und dem dionysischen Prinzip. Dieses letztere führt in seinem Endresultat zur Ekstase, das heißt zur Aufgabe des Ich, während die Kunst doch vor allem Bewußtheit (Ver- “ antwortung) vom Künstler fordert. Meine Entscheidung zwischen diesen beiden Prinzipien dürfte also nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Und wenn ich so nachdrücklich den Wert des klassischen Balletts betone, so geschieht dies nicht einfach, weil es mir gefällt, sondern vor allem deshalb, weil ich in ihm den vollkommenen Ausdruck des apollinischen Prinzips erkenne “.

Dieses Bekenntnis erhält durch das letzte große Werk Strawinskys, welches wir hören konnten, die 1947 geschriebene Ballettsuite „O r p h e u s“ besonderes Gewicht. Das Werk wurde bisher nur am Teatro Fenice in Venedig aufgeführt, in der Stadt, in welcher Monteverdi als Kapellmeister von San Marco tätig war. Wir hörten es im 7. Orchesterkonzert der Konzerthausgesellschaft unter der ganz ausgezeichneten Leitung von Josef Krips von den Wiener Symphonikern. — Die Stilisierung auf das Apollinische hin ist um so bemerkenswerter, als sich im Orpheusmythos die kultischen Kombinationen seiner Nachfolger spiegeln, die sich mit dem Bacchuskult und den samothrakischen Mysterien berühren. — Rein äußerlich fällt bei dem neuen, etwa eine halbe Stunde dauernden Werk die normale Orchesterbesetzung mit einem einzigen Paar Pauken auf. Der Orchesterklang ist von großer Klarheit: durchaus dominieren die Streicher im Wechselspiel mit kleineren Bläsergruppen. Auch dynamisch unterscheidet sidi die Partitur von Strawinskys früheren Werken: erst gegen Ende des zweiten Bildes (das ganze Ballett gliedert sich in drei Szenen) gibt es eine Steigerung bis zum Forte. Denn der kammermusikalischen Faktur entspricht eine sehr zurückhaltende Dynamik, so daß man fast für die Bühnenwirksamkeit des Werkes — worüber noch keine Nachrichten vorliegen — fürchten könnte. Zarte Farben, reiche melismatisehe Schmückung der führenden Stimmen, insbesondere der bukolischen Oboe, bestimmen das Klangbild und den Charakter dieser Musik. Aber so sehr sie beim flüchtigen Hinhören vom bisherigen Stil Stra- winskys verschieden erscheinen mag, um so beziehungsreich klingt sie, wenn man ihr aufmerksam folgt. Das Schlußbild zum Beispiel, ein Lento sostenuto mit Harfen-, Streicherbegleitung und Hornsolo, ist nicht nur klanglich, sondern auch melodisch mit der Berceuse aus dem „Feuervogel“ verwandt; gewisse Streicherfiguren kennen wir aus dem „Apollon Musagžte“ und der „Psalmensymphonie“; die unregelmäßigen rhythmischen Akzente des „Bacchantinnentanzes“ erinnern uns an den „Sacre du Printemps“. — Aber gerade der Vergleich mit diesem Werk ist sehr aufschlußreich und erhärtet das Selbstzeugnis des Komponisten. Denn es gibt in der neueren Musikliteratur kaum ein Werk, dem man das Prädikat „apollinisch“ im Sinne einer edlen, abgeklärten Schönheit mit mehr Recht zusprechen könnte als dieser neuen Orpheusmusik.

1 Chroniques de nu vie. Paris 1935 (Les Editions Denoel et Steele).

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