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OHNE TRADITION

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Wenig sinnvoll wäre es, Ressentiments aufzurühren, dem Theater nochmals und nochmals vorzuwerfen, daß es die jungen Dramatiker vernachlässige, um damit die Antwort zu provozieren: „Schreibt besser, schreibt theatergerechter, dann werden wir euch öfter spielen.“ Ebenso unnütz ist es, anzumerken, daß diese löbliche Mahnung, die Qualität zu steigern und sich den Theaterbedürfnissen anzupassen, fragwürdig ist, solange die Dramaturgen und Kritiker quer durchs deutsche Sprachgebiet hurtig jeder für sich ihre eigene PrivatdTamaturgie erfinden, nach der sie wählen und beurteilen, solange nicht einmal darüber Einigkeit besteht, wie anläßlich einer Dramaturgentagung ans Licht kam, woran die vielzitierte und vielvermißte „Beherrschung des Handwerks“ eigentlich genau zu erkennen sei. Wenn die Dramatiker nicht ganz ihren spärlichen Kredit und ihr erschüttertes Selbstbewußtsein verlieren wollen, müssen den Gesprächen um die Krise des deutschen Dramas das tragische Pathos der gegenseitigen Bezichtigungen, die Pompes funebres der zu Tode gekränkten Eitelkeit und das wehleidige Stimmzittern genommen werden. Es wird nicht gelingen, Theater und Publikum vom Ernst der Situation zu überzeugen, viel zu retten, manches zu bessern, wenn die Autoren auf den Knien kommen und Geschenke oder einen Gnadenakt des guten Willens erwarten. Das Theater ist spröd — es ergibt sich manchmal dem ersten, harten Zugriff (um sich dem zweiten oft unmißs verständlich wieder zu entziehen), meistens aber erwartet es nicht zu ermüdende Geduld es erwartet, daß der dramatische Schriftsteller fürs Metier sein Leben aufwendet.

Zu schätzen weiß es diesen Lebensaufwand freilich erst dann, wenn ihm klar wird, daß das Schicksal der Bühnenautoren einer Epoche das vorweggenommene Schicksal der Theaterkunst selbst ist. Der Niedergang einer dramatischen Literatur innerhalb eines glänzenden Theaterlebens, das seinen Glanz den Reprisen und einer höchst verfeinerten Regie- und Darstellungskunst verdankt, kündet schwindendes Interesse der Menschen an sich selbst, ein Versiegen der Phantasie und eingeschläferte geistige Aktivität an, so daß über kurz oder lang eine allgemeine Entfremdung vom Theater als einer ästhetisch-moralischen Anstalt erwartet werden muß. Wenn das Theater einer Sprachgemeinschaft der Bedeutungslosigkeit entgegengeht, wenden sich zuerst die Autoren von ihm ab... übrig bleiben zuletzt nur die Spielbesessenen, die das Theater um jeden Preis am Leben erhalten, zu allererst um den Preis der Trivialität.

Alle Beweggründe für das Abwandern der Dramatiker vom Theater haben ihre Pendants in der Spielplanpolitik, die nichts anderes ist, als die Geschichte des vom Dramatiker abgewanderten Theaters. Die Verlockung, die gesicherte Serie dem unsicheren Möchtegernerfolg eines neuen Stücks vorzuziehen, entspricht peinlich der Verführung des Dramatikers, eher nach dem übersichtlichen Geschäft mit der Bildtechnik zu greifen als nach dem bescheidenen Ehrengeld, das ihm eine Premiere einträgt. Gewiß, das Theater hat das Recht, sich gegen die deutschsprachigen Dramatiker zu entscheiden, aber es muß dulden, daß es eines Tages sein wird was es wurde: ein Variete der Stars. Und nun stehen wir wieder vor dem allerbeliebtesten Argument: Sind die jungen Dramatiker überhaupt wert, daß ihretwegen Geld riskiert, Arbeit aufgewendet, der Apparat in Bewegung gesetzt wird? Wo sind denn die Qualitätsbeweise? Darauf läßt sich gewiß geltend machen, daß die Investitionen ja nicht allein Herrn X oder Herrn Z gelten, sondern der Hypothese, dlaß unser Theater nur dann eine Zukunft haben kann, wenn es sich jetzt wieder mit den Dramatikern verbündet. Die Vordergrundposition der prominenten Schauspieler und Regisseure sollte nicht verdecken, daß der eigentliche Bühnenstil einer Zeit nur von den schöpferischen Künstlern gestiftet werden kann. Die zeitgemäße Interpretation soll und muß hinter der zeitgemäßen Produktion zurückstehen und ist mir dem Anschein nach fähig, Produktion zu ersetzen.

Nein, nicht der Person allein gelten die Investitionen, sondern vor allem der Sorge, zu verhindern, daß die Tradition nochmals unterbrochen wird. Daß die junge deutschsprachige Dramatik nur selten international konkurrenzfähig ist, hat seine tiefste Ursache nämlich darin, daß die Dramatik die einzige Kunstform ist, die in den letzten 30 Jahren einem vernichtenden Traditionsbruch ausgesetzt wurde. Viel schwerer als die (vielleicht noch verständlichen) Sünden gegen die junge Generation wiegen die (unverzeihlichen) Sünden gegen die Generation vorher. Schon das Dritte Reich hat tiefe Wunden geschlagen (während die Tradition des Romans im Exil gerettet wurde). Ebenso tiefe Wunden aber schlug der folgende Frieden, als die wenigen von den Nationalsozialisten geduldeten Dramatiker der Vätergeneration auch diffamiert und von den Bühnen verbannt wurden. Dadurch sind die jungen Dramatiker einem Brachfeld gegenübergestellt, der Lehrer und Wegbahner beraubt, einem Theaterbetrieb ausgeliefert, der sich schon abgewöhnt hat, in seinen Erfolgsbilanzen noch mit einer deutschen Dramatik zu rechnen.

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