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Zur Problematik des modernen Theaters

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Die Theater der Gegenwart haben es nicht leicht. Wer Spielpläne und Aufführungen der nun in Wien zu Ende gehenden Saison 1946/47 überblickt, wird ein sehr buntes Gemisch vielfarbiger, oft minder-, halb-, nur selten hochwertiger Stücke fest? stellen müssen. Die scheinbar äußerlich bemerkenswerte Reichhaltigkeit der Themen beruht jedoch nicht auf wahrem inneren Reichtum, echter Fülle, vielmehr — wenn wir hier von den reinen „Geschäftsstücken“, den kaltschnäuzig aufgezogenen Kassenschlagern, absehen wqllen, — auf einem nervösen Tasten und Suchen, dem nur selten ein glückliches Finden Antwort gibt.

Die Theater der Gegenwart haben es nicht leidit. Woran liegt die Schuld ihres — von wenigen Ausnahmen abgesehen — offensichtlichen Versagens? Haben wir nicht ehrgeizige Direktoren, begabte Regisseure, berühmte Sdiauspieler? Fehlen also nur die Stücke? Die Dichter? Ja — und nein. Gewiß, wir haben nidit genügend neue Autoren, welche „Gegenwartsprobleme“ zu gestalten vermögen — besitzen wir aber andererseits nicht ein über zweitausendjähriges Repertoire von Sophokles bis Anouülh? Woran fehlt es nun? Es bleibt der letzte Mitwirkende: das Publikum. Ja, unserem zeitgenössisdien Theater fehlt es am „Publikum“ — wir wollen uns präziser ausdrücken, an der „Gesellschaft“.

Das echte große Theater aller Zeiten ist Produkt, Werk einer bestimmten „Gesellschaft“, die ihren Glauben, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Wertewelt, ihren Kosmos auf der Bühne ihres Theaters dargestellt, das heißt meist wiederhergestellt, erneuert wiedergeboren sehen will. Die große griechische Tragödie entstand im Jahrhundert der Krisis der attischen Gesellsdiaft. .Als die alte Ordnung, die Welt der Götter und Heroen, des feudalen Adels zerbrach, als tiefste Unsidierhcit sich der Gemüter der Massen bemächtigte. Wo ist noch Treu und Glauben, wenn die „Götter“, die großen Mächte selbst Lüge und Frevel treiben, beziehungsweise in Angst, Schuld und Wirrnis untergehen? Das athenische Theater war nun Gottesdienst der um ihre innere Wiedergeburt ringenden politischen Gesellschaft. Mit Recht zahlte deshalb der Staat seinen unbemittelten Bürgern das Eintrittsgeld. Das Theater war „staatserhaltend“ in seiqer höchsten gesellschaftlichen Funktion erkannt und anerkannt: es zeigte nidit nur in letzter Klarsicht den Frevel auf, den jedermann im täglichen öffentlichen Leben erlebte, die Schuld, sondern auch, die Sühne: Opfer des Opferlammes, des dem Dionysos geweihten Bockes (griechisch „Tragos“ — daher Tragödie), und groteskes Überspielen der Diskrepanz zwischen Sein und Schein — Komödie —, untrennbare Einheit wie Tag und Nacht, Weinen und Lachen. In ähnlicher Ausgangsstellung und Grundposition steht das Drama Shakespeares. England hatte seine Geborgenheit in der Heilswelt des Mittelalters verloren, ein mehr als hundertjähriger Bürgerkrieg hatte die „alte Gesellschaft“ zerrüttet, beziehungsweise ganz zerschlagen, am Londoner Königshof, an den Höfen der Adeligen, aus dem neuen Stadtvolk der Bürger wädisf. die neue Nation, die englische „Gesellschaft“ der Neuzeit heran: sie will ihre Zukunft schauen im Bild der Vergangenheit, will ihre innerste Unsicherheit — es ist die Brüchigkeit eines jungen, jähen Wadisens und Werdens — meistern in hektischer Lebensfreude (das Leben der Königin Elisabeth!), aber eben auch im Spiel, in der Schau, in der Betrachtung des Glücks und Unglücks seiner Könige, des Aufstiegs und Falles der Großen des Volkes. Der zitternde Glanz, das Beben eines unerhörten Glücksgefühls, die traumhafte melancholische Schönheit, welche auf Shakespeares reifsten Werken, einigen seiner „Lustspiele“, ruht, ist, soziologisch und historisch gesehen, nicht anderes als das befreite Aufatmen einer neu sich konstituierenden Gesellschaft, welche soeben erst den Schrecken des Abgrunds, der Selbstzerflei-schung im Bürgerkrieg, in der Wende der Zeiten entronnen ist. Ringen nun griechisches und englisches Drama um die Wiedergewinnung des „Heils“, um die Wiedererstellung einer ganzen heilen Welt, so zeigen das klassische spanische Drama und die iranzösische Tragedie classique die selbstsichere Feier einer Gesellschaft, welche sich ihrer Kraft und ihrer Werte, ihrer Vorder-und Hintergründe stolz bewußt ist! Das spanische Drama — autos sacramentales. Staatsschauspiele, Tragödie und Komödie — weiß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der spanischen Gesellschaft in Himmel und (nur scheinbar klingt es grotesk) Hölle geborgen. Die Guten erwerben als Märtyrer und Helden die Siegespalme, die Bösen erkämpfen sich mit all ihren irdisdien Erfolgen pur eines: die ewige Verdammnis. Dieselbe Selbstsidierheit einer in ihrer Wertewelt, in ihrem Glauben gefestigten Gesellsdiaft spricht aus dem klassischen französischen Drama. Wenn die Helden Racines und Corneilles im Glanz ihrer Tugenden und Laster die Bühne betreten und ihre wohlgebauten Verstiraden in das Publikum schmettern, dann lächelt dieses wohlgefällig, es läßt sich vom Wohllaut dieser Verse überrieseln wie vom feinzerstäubten Wasserstaub der Fontänen in seinen Gärten: es weiß, hier ist es geborgen, hier geht es gut höfisch, „gesellschaftlich“ zu, hier wird ihm in antikischem Gewand die höchste Ordnung der eigenen Welt demonstrativ vorgeführt. Das große Theater aller Zeiten war also Manifestation einer Gesellschaft — diese wollte ihre Ideen und Ideale, ihren Glauben und ihre Vorstellungen in der großartigen Prägung des Staatsschauspiels auf der Bühne sehen. Wo aber ist die Gesellschaft der Gegenwart? Wo sind ihre Ideen und Ideale, wo ist ihr Glauben, ihre geschlossene Wertewelt? Die bürgerlidie Gesellsdiaft des 19. Jahrhunderts besaß als letzte europäischgeschlossene Gesellschaft noch ihre idealische „idealistische“ Welt — im Pathos, in der Rhetorik Schillers geht der letzte Götterhimmel des Abendlandes unter. Es gibt keine moderpe „Gesellschaft“ in dem Sinne, wie wir von der Polis Athens, von der englisdien, frinzösisdien und spanischen, Adslswelt des 16. bis 18. Jahrhunderts, ja zuletzt nodi von der dcutsdibürgcrlichcn Gesellschaft des 19. Jahrhunderts sprechen dürfen, es fehlt demnach dem Theater der Gegenwart das Notwendigste, was echtes Theater zum Leben braucht: die Atmosphäre, der Raum echter Spannung zwischen einem Publikum, das die Darstellung seiner Ideen und Ideale, seiner Wünsche und Forderungen auf der Bühne erwartet, und einer gesdilossenen Gesellschaft audi der Dichter, Schauspieler, der Bühnenkünstler im weitesten Sinne des Wortes — die begierig ist, dem Wunsche des Publikums zu antworten, seinem Bitten, seinem Drängen zu willfahren, um froh in Feier und Glanz, in Lachen und Weinen den gewünschten „Himmel“ und die verwünschte „Hölle“ darzustellen. In diesem Sinne gibt es in unserer mitteleuropäischen Welt nur zwei Formen ganz echten Theaters mehr: die Kinderbühne — das Märchenspiel, das Ksperl-theater — und die echte Bauernbühne —■ das „Yolksstück“ —, weil hier allein nodi echtes Publicum, öffentliche und zugleich intim-gcsdilpssene „Gesellsdiaft“ vorhanden ist. (Vielleicht erklärt sich aus diesem Zusammenhang die bemerkenswerte Tatsache, daß, uqfreiwillig-frejwillig, die große Bühne der Stadt heute oft die einf oder andere Form dieses eduen Theaters imitiert... Dem normalen Stadtthegter unserer Tage“ fehlt also das Publikum, die Gesellschaft — und damit fehlt ihm im Grunde genommen alles. D die Dichter es nicht mehr wagen dürfen, innerhalb einer allgemein anerkannten Wcrtewclt, innerhalb eines großen Ordnungsgefüges aus der in ihm sich natürlich ergebenden Spannung zwischen Sein und Schein, Gut und Buk, Sdiicksal, Sdiuld und Sühne zu schatten, da es ihnen verboten ist, im Publikum einen „Glauben“ — und dies heißt audi im irdischen Bereich die Erwartungen einer großen Hoffnung und Liebe — vorauszusetzen, deshalb ist die moderne Bühne zum Spielfeld eines fladien Realismus und zum Versuchst jseh zweifelhafter I xperimente geworden. Die Tragödie des modernen „Realismus“: Da jede echte Transparenz fehlt, das Durchscheinen, zumindest Durchschimmern einer anderen höheren Ordnung, die hinter den Dingen, den Personen und Masken des Vordergrundes steht, fehlt auch die echte letzte Spannung! Personen interessieren uns nur dann auf der Bühne, wenn sie letzten Endes Gestalten sind, deren vordergründiges Spiel etwas Hintergründiges aussagt. Bedeutsames Wort: „Person“ — Persona — ist ursprünglich die Maske des antiken Schauspielers, durch welche die Stimme eines anderen, Höheren — des Gottes — tönt; eben deshalb heißt es ja — Per-sonare ... Eben dies aber ist dem modernen Autor versagt. Er darf beim Publikum nicht voraussetzen — keinen Glauben, keine Hoffnung, keine Liebe, keine als allgemeingültig anerkannten Forderungen einer gesdilossenen Gesellschaft, er kann fast nur mit den niedrigsten Instinkten „rechnen“: mit Eitelkeit, Selbstsudu, Sexualität, verbrämt durch Sentimentalität, mit einer dumpfen Genußsucht. Das moderne Theater verwandelt sich deshalb zur Arena, zum Zirkus: das Erregung suchende, sensationslüsterne Publikum sucht im Autor den Dompteur, der seine geheimen und offenen Süchte nicht bändigt, sondern zur Sdiau stellt! Daher aber nun auch die große innere Unsicherheit und Nervosität gerade der besseren unter den Autoren der Gegenwart, Sie wissen nicht, wen sie zuerst zu bändigen versuchen sollen — die Gestalten ihrer Phantasie, die Personen ihres Stückes oder das Publikum .. . Deshalb fliehen sie so oft in imaginäre Räume, in denen sie es wagen dürfen, zart und zaghaft — maskiert vor dem schamlosen Blick der beutehungrigen Menge — von sehr einfachen, sehr menschlichen Dingen zu sprechen: für einzelne wenige. Dajier die Zweideutigkeit so vieler und oft gerade der besten modernen Stücke: ihr Vordergrund ist besät mit erstaunlichen Extravaganzen, Ausflügen in Märchen und Unterwelt — Tribut an das Publikum (welches sich „ergötzen“ will) —, es darf nicht merken, daß im Flintergrund ein schlichtes Spiel vpn Mensdilich-Allzumensdi-ljchem gespielt wird — dies würde seine verbrauchten Sinne verletzen...

Der Autor jedoch, dem dieser Stil des Zwei-, ja Vieldeutigen nicht liegt, muß sich dem anderen Extrem verschreiben: dem „Propagandastück“: der geschickten Auf-stachelung und Anreizung einiger Leidenschaften — „Propaganda“ ist hier keineswegs nur politisch verstanden, es gab und gibt bekanntlich auch eine „Kulturpropaganda“. Auf jeden Fall landen wir hier beim Theaterstil des Dritten Reiches. Die Schaubühne ist nicht mehr „moralische Anstalt“, Stimme letzten Wissens um alles Menschliche und eines durch dieses Wissen verpflichteten Gewissens, sondern Reizmittel, das für sehr verschiedene Zwecke verwendet werden kann. Der Autor also als Jongleur und Dompteur — das Publikum als neu-gierige Menge, gesichtslose Masse: zwischen diesen beiden Polen kann es keine gesunde Spannung einander zustrebender, Begegnung suchender Gegensätze geben, sondern nur die ungesunde Spannung eines filmisch-flimmernden Flitterwerks.

Fazit: die Problematik des modernen Theaters enthüllt die Problematik der modernen Gesellschaft. Erst eine neue ^Gesellschaft“ wird ein neues Theater schaffen. Sie wird es tragen mit ihren neuen Forderungen, mit ihrem Glauben, ihrer Hoffnung, ihrer Liebe.

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