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AUSSERHALB EUROPAS?

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“Cine grundlegende Tatsache, die unser Theater heute charak-terisiert und uns zu weitläufiger Überlegung zwingt, ist sein „Minderwertigkeitskomplex“. Alles, was man über das spanische Theater schreibt, was man seinetwegen bemüht ist, alles, was Innenleben und Gespräch von Klub, Kritik oder Salon nährt, ist bestimmt durch die Überlegung, daß unser Theater heute im Weltpanorama das fünfte Rad am Wagen ist. Eine hemmungslose Übersetzungsflut, die schwärmerische Wiederholung derselben vergötterten Namen — amerikanische, französische englische — sind aufschlußreiche Zeichen dieses Komplexes. Die Verkleinerung der Welt, der größere Kontakt zwischen den Kulturen bewirkten im spanischen Schriftsteller etwas Ähnliches wie den Verlust paradiesischer Unschuld. Plötzlich sah er, daß er nackt war. Und er griff zur Notwehr, zu den Feigenblättern der Übersetzung und Imitation. Am liebsten würde er für sein Theater Miller, Faulkner und Saroyan kaufen und mit diesen „Aushängeschildern“ dem Theater abhelfen, wie man dem Fußball abgeholfen hat.

Genauer betrachtet, erscheint dieser Komplex nicht als vereinzeltes Phänomen sondern als ein Teil des großen und für Spanien charakteristischen Minderwertigkeitskomplexes, der seit Quevedos „Espana defendida“ dem Spanier zu schaffen macht.

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Dieser Komplex ist in dem Gefühl verankert, daß wir „außerhalb von Europa“ stehen. Wir wissen, daß wir den Weg uneingeschränkter Aktion eingeschlagen haben, den Weg Don Quijotes, während Europa den des methodischen Zweifels nahm, den Hamlets. Vor „Sein oder Nichtsein“ begann sich Europa selbst zu analysieren. Wir hingegen, einer mittelalterlich scholastischen Überzeugung hingegeben, überließen uns blindlings dem „Sein“. Und natürlich machte sich dieser Komplex gerade dort bemerkbar und versicherte uns einer außereuropäischen Unterlegenheit dort, wo rationales Denken und Reflexion über Wissenschaft und Technik, die modernen europäischen Errungenschaften, den größten Erfolg gehabt hätten. Und das so deutlich, daß parallele Prozesse wie der politische Inferioritätskomplex oder der literarische gar nicht weiter beachtet wurden. Schon zur Zeit von Quevedos „Espana defendida“ schrieb Lope in einer seiner Komödien:

Kommt einet nur vom Ausland, ist der Mann schon allgemein vortrefflich. Und ein Buch in fremder Sprache, immer hat es besten Ruf.

So ist der gegenwärtige Komplex des spanischen Theaters keine Einzelerscheinung, sondern Teil eines weitreichenden und fortleibenden historischen Phänomens. Die Distanz zwischen Miller und irgendeinem lebenden spanischen Autor, die unsere Jugend bewegt, ist nicht größer als am Ende des 17. Jahrhunderts der Unterschied zwischen dem vitalen und ein wenig barbarischen Theater Calderons und dem umsichtigen und rationalen Kammerspiel eines Racine. Seit Lope hat unsere ungeheure dramatische Schöpfung dieser Gewissensbiß begleitet, „außereuropäisch“ zu sein, volkstümlich und ohne Respekt vor den überkommenen Regeln. Was ist Lopes „Arte nuevo“, wenn nicht ständiges Sich-Entschuldigen wegen Nichtbeachtung und Regelwidrigkeit seines Theaters in Hinblick auf Aristoteles, dessen Regeln das moderne Europa fröhnte? Die ständige Berufung auf die „Kultur Europas“, die Scham über das mittelalterliche Wesen unserer sakralen Spiele, die Klagen über die abweisende Kälte des Publikums vor den französischen Tragödien sind vom selben Holz wie die Klagen der Jugend von heute. Man tausche die Regeln von Boileau oder Aristoteles, deren Mangel man damals beklagt hat, mit der psychologischen Einwärtsschau des modernen Theaters, tausche Racine oder Moliere mit Faulkner oder Jonesco, sage statt „Europa“ etwas seufzend „Amerika“, und man hat zur Gänze den Minderwertigkeitskomplex des gegenwärtigen spanischen Theaters.

Dieser Komplex geht von einem bestimmten, radikal einsetzenden historischen Moment aus, dem der Gegenreformation.

Was ist denn Don Quijote anderes als das Narrentum eines Heroen im Dienste eines veralteten Ritteridols? Was Lopes Theater, wenn nicht verzweifeltes szenisches Einbalsamieren eines heroischen und schon verwelkten Lebensprinzips, das vor den Augen des Dichters zugrunde gegangen ist im Ärmelkanal und mit den Schiffen der unüberwindlichen Armada?

Was aber macht der Existentialismus heute, nach all den gescheiterten Revolutionen, während es den Menschen zur letzten, zur äußersten drängt, in der er seine nackte Existenz Tetten will, wenn nicht zurückgehen auf Instinkt und Intuition, indem er dünkelhaften Rationalismus abschwört? Die moderne Welt ist ganz das Gegenteil von einer Welt mit fixen Regeln, wie sie die Aristoteles' und des Neoklassizismus war. Sie ist bereits zu allen Möglichkeiten — sogar der, auf ihren Wegen mit einem Teil des spanischen Archaismus wieder zusammenzutreffen. Schlußfolgerung also hinsichtlich des spanischen Minderwertigkeitskomplexes: Man muß 'grundsätzlich unterscheiden zwischen den Fähigkeiten des Spaniers und bestimmten historischen Ereignissen, die ihn schon Jahrhunderte hindurch von Europa trennen.

In der Literatur ganz allgemein ergibt sich eine nachdrückliche Zäsur beim Einbruch der Gegenreformation. In diesem Moment überschlägt sich unser Stil im übertriebenen Barock, und wir bleiben desto mehr vom neoklassizistischen und carte-sianischen Europa getrennt.

Der Ausgang des 15. und der Beginn des 16. Jahrhunderts standen unter völlig verschiedenen Vorzeichen. Der „Buen Gusto“ — will heißen Mäßigung und Eleganz — war das meist Gesuchte und Geschätzte in der Literatur. Später hat |ich diese Bezeichnung über ganz Europa verbreitet und Frankreich machte den „Bon goüt“ zum geistigen und literarischen Schlagwort des 18. Jahrhunderts. Man muß aber diesen Begriff auf unsere Königin Isabel die Katholische zurückführen, die damit alles Echte und Elegante bezeichnete mit der Manier einer Hausfrau, die mit kulinarischem Feingefühl die Gediegenheit einer Prosa

genauso zu schätzen wußte wie die von Honigseim oder Geschmortem.

Unter diesen Vorzeichen blühte viel Verheißungsvolles in der Morgenfrühe des 16. Jahrhunderts auf. Große Teile der Liedersammlungen, viel von Garcilaso, ein Teil der „Celestina“, die Prosa des seligen Avila, und vor allem der Stil der Chronisten Indias. Und hätte sich nicht das geblähte Gebärdenspiel gegen-reformatorischer Kriege dazwischengedrängt, hätte diese Wertschätzung des „Buen Gusto“ angedauert, wahrscheinlich wäre dann die spanische Literatur in eine andere Richtung vorangeschritten. Nirgends läßt sich das so gut nachweisen wie im Drama. Am Beginn des 16. Jahrhunderts schlug es Wege ein, die Sackgassen waren, und es begab sich auf einen Todesweg, als es sich mit der Vehemenz eines Staatsstreiches als heroisches Theater breitmachte, wie es angebahnt haben Juan de la Cueva oder Guillen de Castro, gefestigt Lope und Tirso und emporgeführt zu höchstem metaphysischen Niveau barocker Ausdrucksform Calderon. Das war dann also unser Theater: Theater der Gegenreformation.

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A ber es konnte auch ganz anders sein. Gil Vicente kreierte **• ein poetisches Theater, das ohne Nachfolge blieb bis Garcia Lorca, Lope de Rueda das heitere Milieustück, das mit einigen Ausnahmen warten mußte auf unser Jahnhundert, um sich dann von Farce und Schwank engagieren zu lassen. „La Celestina““ konnte Ansatz sein zu einer Art „shakespearschem“ Theater, „La Propalodia“ von Torres Naharro, das Muster eines kritischen, erasmianisch liberalen Theaters. Die Werke von Villa-lobos, Perez de la Oliva oder des Domherren Bermudez schienen ein neoklassisches Theater anzukündigen, das die Rezepte von Racine und Corneille vorwegnimmt. Aber all dies blieb Ahnung von universaler Möglichkeit und Fähigkeit des Spaniers als Theatermenschen, erstickt im Dickicht des wie ein Wrack geborstenen historischen Dramas, das Lope und Calderon noch einmal auf die Beine stellen wollten.

Man betrachte Lopes „Arte nuevo“ als ein Ins-Wort-Fallen auf die Frage, die einige Jahre darnach Quevedo stellen wird: „Wer heißt \ms nicht Barbaren? Wer sagt nicht, wir sind überhebliche Ignoranten?“ Doch in wessen Namen konnte Europa in Sachen Theater Spanien diesen Vorwurf machen? Im Namen einiger aristotelischer Regeln? Waren denn diese Regeln überhaupt Quintessenz des griechischen Theaters oder scheint nicht die Menge, der Lope gefällig war, weit mehr als die Höflinge, die den Pariser Tragödien applaudierten, dem Volkshaufen ähnlich zu sein, der einst zur Akropolis hinaufdrängte wie zur Wallfahrt, um sechs Stunden lang eine Trilogie zu hören und eine Satire? Vielleicht hat Lope sich selbst nicht vollkommen Rechenschaft darüber abgelegt, daß seine scheinbare Barbarei, sein Komplex des „Außerhalb von Europa“-Stehens auf dem Mißverständnis beruhte, das Unwesentliche von Regeln sei das Substantielle des Theaters.

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Co sieht sich der Spanier heute nach vielen Jahrhunderten glorreichen heroisch-nationalen Theaters abermals gleichsam schockiert und bestürzt vor dem modernen Welttheater, das voll seelischer Zerrissenheit, kühner sozialer Ideen und sinnlich erotischer Geständnisse ist.

Das Schlimmste aber wäre, abermals in den Komplex Lopes zu verfallen, der sich rechtfertigen wollte, während er echtestes und vitalstes Theater der Zeit zu schaffen daran war. Richten wir nicht unsere „Mimesis“ wiederum auf Falsches, indem wir Beiwerk imitieren statt Substantielles! Und das Substantielle

des modernen Theaters ist sein Mut, seine ungebundene Art und vor allem seine Echtheit. Diese besteht darin, mit einer neuen Sprache die Wahrheit zu sagen, und nicht, zwangsmäßig jetzt Probleme amerikanischer Handlungsreisender, neurotischer Damen und tropischer Leidenschaften auf Spanisch zu machen. Nicht wenige Probleme des europäischen oder amerikanischen Theaters sind ein Echo auf Forderungen, wie sie 6ich bei uns

gar nicht ergeben, genau genommen vielleicht wegen jener Asepsis und Bevormundung durch die Gegenreformation, die uns von etlichen Dingen zwar isoliert, vor etlichen aber auch bewahrt hat.

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Es war ein weitverbreiteter Irrtum, zu glauben, im Siglo de Oro habe sich unser Theater moderner Problematik enthalten. Das Charakteristische unseres Theaters lag gerade darin, daß es sich der siedenden Unruhe der Moderne bemächtigt hat und sie bis an die Grenze von Lösung und Antwort gesteigert. Das theologische Theater von Tirso? Ist es nicht nach einem Schlagwort der Zeit Theater der „Angst“? Der „Verurteilte durch Mißtrauen“ und „Don Juan“, den man den Verurteilten durch Vertrauen nennen könnte, umzirkeln sie nicht die beklemmendsten Zeitprobleme, die von Prädestination und freiem Willen? In Leonelo von Lopes „Bezahlter Bürgschaft“ gibt es die ganze trübe Problematik des Inzests. Im „Honigkuchen Belisas“ das Hell-Dunkel der Psychoanalyse. In jenen Zweifeln de* Sigismund: „Ich weiß nicht, ist alles Traum, was man sieht, was man fühlt, ist es Lüge oder Wirklichkeit?“ ist alle Kantsche Kritik spürbar. Aller Zweifel, alle Leidenschaft und Psychopathie ist in unserm Theater schon vorhanden, freilich nicht wahllos verschüttet wie Wasser, sondern aufbewahrt in schönen wohlgeformten Gefäßen.

Die ganze Botschaft unserer Klassiker ist es. Lope präsentiert uns ein ums andere Mal das Problem der modernen Demokratie. „Peribanez, der Edelmann von Illescas“ oder „Fuenteovejuna“ zeigen uns das Volk in Rebellion gegen die aristokratisch Tyrannei mit überschäumender Kraft, die gerade nicht demagogisch wirksam wird, weil im letzten Augenblick das dramatische und politische Anliegen des Dramas durch die Intervention des Monarchen beschlossen wird. Es mangelt nicht an moderner Problematik bei Lope und Calderon. Wenn wir im „Fuenteovejuna“ den Vorhang vor der letzten Szene fallen lassen, bevor der König interveniert, haben wir ein revolutionäres Drama; ein sowjetisches, wenn man es wie in Rußland ohne diese Lösung aufführt. Ziehen wir nach dem ersten Akt von „Das Leben ein Traum“ den Vorhang zu, haben wir ein existentialistisches Werk voller Fragen, wie: Was ist das Leben? Welches Vergehen habe ich durch meine Geburt begangen?, wie in irgendeinem Werk Sartres oder Priestleys.

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So kommen wir zu folgendem Schluß: Daß der Spanier diesen nun schon 300 Jahre alten Minderwertigkeitskomplex überwinden muß durch den Glauben an sein Talent, indem er sich genau auf jene Prinzipien stützt, die er durch die lange Isolierung verteidigt hat, und daß er mit Hilfe assimilierter Methoden seine eigene Botschaft verkünden soll.

Man fordert vom Spanier nichts Neues oder Ungewöhnliches mit dieser Assimilation. Das ganze Leben dieser Rassenmischung, wie sie Spanien nun einmal ist, war pure Assimilation. Was ist die Reform von Cluny im 13. Jahrhundert, wenn nicht erste christliche Aufklärung? Was sprechen die Silhouetten von Burgos oder Pamplona, wenn nicht von jener urwüchsigen Vereinigung des Angestammten mit dem Französischen, dieser Ehe, die aufblühte entlang des Pilgerweges nach Compostela? Haben wir nicht im Siglo de Oro eine Renaissance, zugeschnitten durch Fray Luis? Eine Reformation, die San Ignatius hervorrief? Der Escorial, ist er nicht Wesen Europas, radikal spanifiziert im Herzen Kastiliens? El Greco, nicht ein Kreter, der sich zu einem tragischen Toledaner gewandelt hat? All das kennzeichnet die ungeheure Kraft der Assimilation, aber auch die Dauerhaftigkeit des autochthonen Kerns, der zu solch gigantischen Importen ins spanische Wesen fähig ist. Warum also einen Komplex haben vor erneuerter Kühnheit des Welttheaters? Niemals war es verschiedenartiger, unruhiger, mehr bereit zu allen Möglichkeiten. Aber auch niemals weniger bejahend. Unaufhörlich wirft es Probleme auf. Sartre fragt: Was sind Mensch und Leben? Miller:

Was ist die technische Zivilisation, die uns umringt? Brecht: Wozu Krieg? Priestley: Wozu Zeit? Jonescu: Wozu Logik?

Ich glaube, niemals war das Theater besser gerüstet für unsere junge Generation, daß sie Stimme und Wort erhebe zur Antwort auf soundsoviele Fragen und ein Theater schaffe, uns zur Erheiterung, uns zur Hoffnung und zur Bestätigung.

Deutsch von Dr. H. C. Zapotoczky

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