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200.000 Menschen verließen die Kirche

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Kirchenaustritte werden heute in und außerhalb der Kirche einfach zur Kenntnis genommen. Die näheren Umstände und die Glaubenssituation der Ausgetretenen werden selten überlegt. Bei einer Glaubensmission in einer Stadtpfarre wurden gezielt Ausgetretene besucht. Der Zweck der Besuche war, die näheren Umstände, die zum Austritt führten, kennenzulernen, zu erfahren, wie sie jetzt über Glaube und Kirche denken, und jenen eine Brücke zu bauen, die einen Wiedereintritt überlegen. Die Erfahrungen bei diesen Besuchen ergeben zwar kein vollständiges Bild; könnten aber Anlaß sein, sich mit' diesen Problemen intensiver auseinanderzusetzen.

Es gab in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg bis heute drei Austrittswellen. Die erste war verursacht durch den Konflikt zwischen Kirche und Sozialismus in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die zweite kam zur Zeit des Nationalsozialismus und die dritte in den letzten Jahren. Von 1967 bis 1977 sind in Österreich mehr als 200.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten.

Die meisten der Besuchten stammten aus der zweiten und der dritten Welle. Die Bereitschaft zum Gespräch war unterschiedlich. Die ei-

„Manche sprachen nicht über die eigentlichen Ursachen des Austritts, sie sind zu persönlich und liegen zu tief

nen lehnten es kategorisch ab; andere waren freundlich, wollten sich aber nicht in ein Gespräch einlassen, und eine dritte Gruppe - etwa ein Viertel der Besuchten - ließ sich in ein Gespräch ein, das mitunter eine Stunde und noch länger dauerte.

Kirchenaustritte sind in vielen Fällen ein Ereignis, das mit starken Emotionen verbunden ist. Deswegen können auch geringfügige Anlässe sehr wirksam werden. Ein oft genannter Anlaß ist die Kirchensteuer, speziell bei Engpässen, wie bei der Einrichtung von neuen Wohnungen, dem Aufbau eines Geschäftes, bei Konflikten mit dem Kirchensteuerbeamten.

Anlaß kann auch die Unmöglichkeit einer kirchlichen Trauung sein, eventuell verbunden mit einem unklugen Wort des Priesters. Auslösendes Moment ist mitunter ein ungerechtes oder auch bloß ungeschicktes Verhalten von Priestern, Pfarr-und Krankenschwestern oder von Katholiken, die der Kirche sehr nahe stehen. Das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein oder der Mangel an Einfühlungsvermögen führte bei einigen der Besuchten zum Austritt.

Es gibt aber auch Austritte als Konsequenz einer langen Entwicklung. Die Betreffenden haben entweder den Glauben nie recht kennengelernt oder sich ihm völlig entfremdet. Man tritt aus, weil man es für sinnlos hält, weiter dabei zu sein.

Anzutreffen waren auch Leute, die aus der Kirche ausgetreten sind, um in eine Sekte einzutreten, besonders zu den Zeugen Jehovas. Schließlich gibt es auch den Austritt als Folge vieler harter Schicksalsschläge, in denen man von Seiten der Kirche keine Hilfe erfuhr und an denen der Glaube zerbrochen ist.

Mitunter hatte ich den Eindruck, daß manche über die eigentlichen Ursachen des Austritts nicht gesprochen haben; diese sind zu persönlich und liegen zu tief. Die' Ursachen für den Austritt sind eng verbunden mit der ganzen Lebensgeschichte und mit den vielfältigen Einflüssen der Umwelt.

Auffällig war, daß der weitaus größere Teil, der sich in ein Gespräch

einließ, betonte „gläubig“ zu sein. Sie meinen, auch ohne in der Kirche zu sein, Christen bleiben zu können. Sie sehen im Austritt etwas Äußerliches, wie den Austritt aus einem Verein, der kaum etwas an ihrer Gesinnung ändert.

Einige sagten, sie sähen keinen Grund für einen Wiedereintritt; ein Wiedereintritt würde ihre Einstellung und ihre Lebensgewohnheiten nicht ändern, wie auch der Austritt sie kaum verändert hat. Sie gehen nach dem Austritt ungefähr ebensooft in die Kirche wie vorher.

Kirche als „Heilsgemeinschaft“ oder als Gemeinschaft jener, die sich bewußt zu Jesus Christus bekennen, ist für viele nicht realisierbar. An Christus glauben, bedeutet für nicht wenige das gleiche, wie an den Herrgott glauben; wobei für manche alle Religionen den gleichen Stellenwert haben. Sie sind nicht nur religiös ohne Kirche, es fehlt auch an Wissen und Glauben bezüglich der Person Jesu Christi.

Manche scheinen sich ihrer Sache trotzdem nicht so sicher zu sein. Denn auffallend sind die sehr emotionalen Anklagen gegen die Kirche, wie auch die Beschuldigung jener Christen, die regelmäßig in die Kirche gehen, aber schlechter als andere Menschen seien, und die Verteidigung der eigenen Position. Beschuldigung und Verteidigung sind oft Zeichen der Unsicherheit.

Einige betonten, trotz ihres Austrittes nicht gegen Religion oder Kirche zu sein. Diese seien gerade heute, wo das sittliche Leben verfällt, notwendig. Ein anderer gab als Grund seines Austrittes an, alle Religionen, auch die christliche, hätte versagt; durch sie sei die Menschheit nicht besser geworden.

“Wieder ein anderer war unbedingt für Gott und auch für die Religion, aber entschieden gegen die Kirche; sie habe in ihrer Geschichte echte Religion immer wieder verdorben und behindert. Ich traf auch solche, die die religiösen Fragen offen ließen. Sie sind in einem kirchenfernen Milieu herangewachsen; sie sind auf der Suche und konnten sich von der Wahrheit des christlichen Glaubens noch nicht überzeugen.

Wie stehen Ausgetretene zum Tod? Das „Rette deine Seele“ der alten Volksmission war doch für viele ein ausschlaggebender Grund, in der Kirche zu sein und zu bleiben. Das scheint heute nicht mehr der Fall zu serin. Einige kamen darauf zu sprechen. Sie hofften auch - soweit sie an ein Weiterleben nach dem Tod glauben -, ohne Kirche ihre Seele zu retten. Die Frage des kirchlichen Begräbnisses haben manche durch den Beitritt zur „Flamme“ für sich gelöst.

Die meisten Ausgetretenen, die be-

tonen gläubig zu sein, haben ihren Glauben von ihren Eltern, Großeltern oder durch eine Phase im eigenen Leben, in der sie eng mit der Kirche verbunden waren. Ob dies auch bei den jüngeren Ausgetretenen noch der Fall ist, konnte ich nicht erfahren. Sie waren viel schwerer anzutreffen, da oft beide Partner berufstätig sind.

Wie denken Ausgetretene über den Glauben ihrer Kinder? Man wartet mit dem Austritt, bis die Kinder größer sind. Andere wollen, obgleich sie selbst ausgetreten sind, ihre Kinder taufen lassen, um ihnen Nachteile zu ersparen und die Möglichkeit des Glaubens zu geben. Wenn die Kinder

„Viele Probleme der Ausgetretenen sind auch Probleme vieler Katholiken, die (noch) nicht ausgetreten sind.“

groß sind, können sie ja selbst austreten, falls sie dies wollen. Wieder andere lassen ihre Kinder nicht taufen, schicken sie aber in den Religionsunterricht, damit sie den Glauben kennenlernen können. Schließlich gibt es auch solche, die ihre Kinder weder taufen lassen, noch irgend etwas für die religiöse Erziehung tun.

Über die Auswirkung der eigenen Lebensführung auf das Werden des

Glaubens der Kinder scheinen viele nicht Bescheid zu wissen. So war eine junge Frau sehr betroffen, als ich ihr sagte, sie könne den Glauben, den sie selbst durch ihre Erziehung noch habe und schätze - obgleich sie ausgetreten sei - nicht an ihre Kinder weitergeben, weil es diese religiöse Atmosphäre in ihrer Familie nicht mehr gäbe.

Der größere Teil denkt nicht an Rückkehr. Hier zeigt sich, daß Rückkehr doch etwas mehr ist als Wiedereintritt in einen Verein, und daß die meisten dafür auch ein Gespür haben, auch wenn der Austritt eher verniedlicht wird; zumindest in Worten. Die Rückkehr wird auch kaum erleichtert durch das Vergehen der Zeit nach dem Austritt; es ist eher umgekehrt.

Schließlich traf ich auch jemanden, in dem durch die Ereignisse des Lebens und angesichts der heutigen Zeitsituation die Uberzeugung gewachsen ist, in die Kirche zurückkehren zu sollen. Auch die Eheschließung - vielleicht auch der Wunsch des Gatten oder die Rücksicht auf die Verwandtschaft - kann zum Wiedereintritt führen.

Zwei Probleme haben mich noch besonders beschäftigt. In vielen Fällen ist die Kirchensteuer der letzte Anlaß, mit der Kirche zu brechen; das finde ich sehr bedauerlich. Viele Probleme der Ausgetretenen sind auch Probleme vieler Katholiken, die (noch) nicht ausgetreten sind. Die Pastoral müßte sich durch diese Fragen viel stärker herausfordern lassen. Denn die Ursachen für diese Situation liegen auch in den Versäumnissen der Kirche.

(Der Autor ist Provinzial der österreichischen Redemptoristen-Provinz und Geistlicher Assistent der Katholischen Aktion Österreichs.)

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