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Bescheide und Strichel

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Wohl eines der brisantesten Themen im Rahmen der derzeitigen Schulversuche ist das Thema der Ganztagsschule. Denn gerade auf diesem Gebiet könnten in der nächsten Legislaturperiode Maßnahmen gesetzt werden, die nicht nur unser Schulsystem radikal verändern, sondern darüber hinaus auch gewichtige gesellschaftliche Folgerungen mit sich bringen können.

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Wohl eines der brisantesten Themen im Rahmen der derzeitigen Schulversuche ist das Thema der Ganztagsschule. Denn gerade auf diesem Gebiet könnten in der nächsten Legislaturperiode Maßnahmen gesetzt werden, die nicht nur unser Schulsystem radikal verändern, sondern darüber hinaus auch gewichtige gesellschaftliche Folgerungen mit sich bringen können.

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Im Gegensatz zum derzeit vorherrschenden System (vormittaigs in der Schule, nachmittags zu Hause) weist die Konzeption der Ganztagsschule in die Richtung einer ganztägigen Betreuung der Schüler. Dieser Gedanke findet sich ausdrücklich im SP-Vorschlag, in dem weiter ausgeführt wird: „Für alle Schularten sind daher Ganztagsschulen einzurichten, die unentgeltlich in Anspruch genommen werden können.“

Das sozialistische Modell sieht einen ganztägigen Unterricht vor, wobei jedoch jeweils eine Stunde Unterricht (im engeren Sinn) durch eine Stunde Vertiefung, Hausübungen, gelenkte und ungelenkte Freizeit ergänzt wird.

Der Nachteil dieses Modells ist leicht erkennbar: Diese Form des Unterrichts kann nicht freiwillig sein, denn der Stundenplan zwingt jeden Schüler, bis 17 Uhr in der Schule zu bleiben. Die Kinder würden dadurch den Eltern entzogen, die nur mehr in den Abendstunden und am Wochenende die Möglichkeit hätten, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen. Der Erfolg wäre, was Fachleute kurz als „Verschulung“ bezeichnen. Angesichts dieser Bedenken wurde daher das Ganztagsmodell bisher auf „freiwilliger“ Basis erprobt.

Obwohl sozialistische Reformer beteuern, daß die Ganztagsschule freiwillig sei und niemand gezwungen werde, liegt das Problem in der Tatsache, daß — sollten einmal derartige Ganztagsschulen in genügend großer Anzahl eingerichtet sein — die Kinder gezwungen wären, diese Schule zu besuchen, es sei denn, sie wollen — insbesondere auf dem Lande — einen unverhältnismäßig weiten Schulweg in Kauf nehmen.

Hier hakt nicht nur die scharfe Kritik der Volkspartei ein, auch eine Umfrage unter den Eltern zeigt scharfe Ablehnung: rund zwei Drittel der Elternschaft haben sich klar für ein freiwilliges Angebot (also im wesentlichen für die Tagesheimschule) entschieden; ^in Sechstel lehnt die Ganztagsschule überhaupt ab und nur ein weiteres Sechstel steht der Pflichtigen Ganztagsschule positiv gegenüber.

Die ÖVP hat als eigenes Modell die „Tagesheimschule“ entwickelt, die die Vorteile der Ganztagsschule, also insbesondere die Betreuung der Kinder, deren Eltern diese Betreuungsfunktion am Nachmittag nicht ausüben können, enthält, ohne jedoch durch den Zwang des Stundenplanes gefährliche Verschulungs-tendenzen zu fördern.

Dieses Modell sieht lediglich am Vormittag ordentlichen Unterricht vor, der auf freiwilliger Basis am Nachmittag durch ein gemischtes Be-treuungs- upd Tutorensystem ergänzt wird. Diese Kombination des deutschen und britischen Tutorensystems hat den Vorteil, daß nur jene Kinder den Nachmittag in der Schule verbringen werden, deren Ellern es wünschen oder für notwendig erachten (etwa in Hinblick auf eine Leistungssteigerung des Schülers).

Während es bereits mehrere Versuche mit der Ganztagsschule gibt, wird die Tagesheimschule erst an zwei Wiener Gymnasien erprobt. Aber auch in der SPÖ machen sich bereits Zweifel am Ganztagsmodell breit, denn auch fortschrittliche Pädagogen haben die Befürchtungen der Gegner der Ganztagsschule erkannt und haben bestätigt, daß der Schüler durch den Stundenplanrhythmus noch weniger Freizeit hat als bislang; der Arbeitsablauf ist zu „durchorganisiert“. Über die Zukunft dieses Schulversuches machen sich Kenner der Materie allerdings keine Illusionen. „Die Sozialisten werden für die Ganztagsschule ein neues Modell entwerfen und die Tagesheimschule — weil es sich hier um einen VP-Vorschlag handelt — .verhungern' lassen.“

Zu den Schulversuchen sei noch hinzugefügt, daß sich die Erkenntnisse der letzten Jahre im wesentlichen weiter bestätigt haben. Denn am Minoritenplatz werden viele Probleme unter den Teppich gekehrt. Viele Pädagogen haben zunehmend den Eindruck, daß offensichtlich bei den Schul versuchen das lierauskom-men muß, was herauskommen soll. Insofern sind insbesondere die Vergleiche, die regelmäßig ein „besseres Abschneiden“ der Versuchsschulen zeigen, stark anzuzweifeln, da meist Unvergleichbares miteinander verglichen wird. Für die Schulversuche ist nämlich nicht nur kein finanzieller Aufwand (Ausgestaltung der Schulen mit Geräten und Apparaten, neue, moderne Räumlichkeiten usw.) zu groß, es werden in diesen Schulen auch weit mehr speziell ausgesuchte und geschulte Lehrkräfte eingesetzt, sodaß ein Vergleich mit einer „biederen“ herkömmlichen allgemeinbildenden höheren Schule oft gar nicht zulässig ist.

Besonders deutlich wird der Mittelschüler-Kartellverband (MKV) in einer Aussendung: „Schulversuche, an deren Effizienz immer mehr gezweifelt werden muß, verschlingen Unsummen an Steuergeldern, während für Verbesserungen des .herkömmlichen Unterrichts' die Mittel fehlen ... Die durch die Schulversuche erreichten Verbesserungen für einzelne Bereiche müssen allen Schülern zugänglich gemacht werden: Anwendung neuer Unterrichtsmethoden ist auch im .herkömmlichen' Unterricht unerläßlich.“

Was die Erfahrungen mit dem 1974 in Kraft getretenen Schulunterrichtsgesetz (SCHUG) betrifft, so ist die Kritik einhellig: zu viel BÜrokrati-sierung. Der administrative Aufwand, vor allem die zahlreichen, vom Gesetz geforderten Bescheide, hat sich als immens herausgestellt. Ein Experte drückt dies so aus: „Es gibt zwar eine juristische Wirklichkeit, doch wurde beim SCHUG die ver* waltungstechnische, pädagogische und soziale Realität zu wenig beachtet.“ Man habe das SCHUG viel zu kasuistisch geschaffen; „statt eine normal funktionierende Schule als Modellfall zu nehmen, wurde ein Gesetz für Extremsituationen konstruiert.“

Ein konkretes Beispiel: binnen dreier Tage müssen nach der sogenannten „Drei-Wochen-Konferenz“ für jeden Schüler Bescheide ausgestellt werden, ob er aufsteigen kann oder nicht. Eine größere Schule in Leoben hatte binnen dieser Dreitagesfrist rund 630 Bescheide auszufertigen. Diese Bescheidflut wird von fast allen Beteiligten (Lehrer, Eltern, Schüler) als unerträglich empfunden; insbesondere auch die Tatsache, daß auch positive Bescheide ergehen müssen (daß etwa der Schüler zur Matura antreten darf und daß er sich die gewählten Gegenstände auch tatsächlich auswählen darf). Pro Schüler sind pro Schuljahr — laut einer Untersuchung — rund 17 Bescheide auszustellen; kein Wunder, daß viele Lehrer verständnislos den Kopf schütteln.

Eine besondere Delikatesse ist die von den Lehrern als „Stricherlerlaß“ bezeichnete Anordnung, die regelt, wie (von links unten nach rechts oben, beziehungsweise waagrecht) und wann . der Klassenvorstand in Katalog und Zeugnis entsprechende Eintragungen vorzunehmen habe. Pro Schüler und Schuljahr ergibt dies eine Summe von 51 Stricherln in einer Gesamtlänge von 3,40 Meter(!).

Ein Nebenprodukt dieser totalen Bürokratisierung ist der Umstand, daß dadurch gewisse Gegensätze zwischen Lehrern, Eltern und Schülern aufgerissen wurden. So hat zum Beispiel der Vater nicht mehr jederzeit die Möglichkeit, Handlungen seines Kindes zu beeinflussen. Der Vater kann wohl binnen 48 Stunden gegen die Anmeldung oder Abmeldung von einem Freifach Einspruch erheben, sollte er aber erst spät von der Entscheidung seines Kindes erfahren, so könnte die Fallfrist den Einspruch absolut machen.

Eines ist klar: mit dem Schulunterrichtsgesetz 1974 war es beileibe nicht getan. Daß dieses Gesetz stark verbesserungsbedürftig ist, ist weitgehend unbestritten. An den Novel-lierungsbestimmungen wird bereits gearbeitet, und man kann nur hoffen, daß die Unruhe, die durch SCHUG und Schulversuche in die Schulen getragen wurde, bald der Vergangenheit angehören wird.

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