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Das ist wie im Fernsehen!

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Wenn durch die Medien Wertvorstellungen ins Wanken geraten, macht man Journalisten dafür verantwortlich. Verdirbt nicht die Neugier des Publikums die Medien?

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Wenn durch die Medien Wertvorstellungen ins Wanken geraten, macht man Journalisten dafür verantwortlich. Verdirbt nicht die Neugier des Publikums die Medien?

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Der Einfluß, den das Fernsehen auf das Wertesystem unserer Gesellschaft ausübt, kann nicht einfach gleichgesetzt werden mit dem vielfach untersuchten Einfluß des gesprochenen und gedruckten Wortes. Der Einfluß des Fernsehens ist nicht nur stärker, unausweichlicher, allgegenwärtig — er ist auch von anderer Qualität.

Kognitive Inhalte werden im Regelfall dem Kurzzeitgedächtnis überantwortet und sind relativ schnell vergessen. Bilder haften viel länger im Gedächtnis. Die emotionalen Beiladungen, die sie transportieren, führen ein nahezu ewiges Leben im seelischen Haushalt eines Menschen.

Was im bewegten Bild gezeigt wird, gewinnt den Rang des Authentischen: Ich habe ja . alles selbst gesehen und gehört, es muß wahr sein. Das macht jedes Arrangement, jede Manipulation im Fernsehen, das ja eigentlich Fernsehen und Fernhören heißen müßte, weil es zwei Sinne gleichzeitig in Anspruch nimmt, so ungemein wirksam, möglicherweise gefährlich.

Auch die Presse war stets eine Agentur des jeweiligen Zeitgeistes. Auch sie hat die Gedanken multipliziert und ausgestreut, die ihre Epoche bewegten, aber diese Gedanken, so kühn sie auch sein mochten, trafen in aller Regel auf die massive Realität des täglich erfahrenen Lebens und brachen sich an ihr.

Die Dienstmagd, die abends ihren Marlitt-Roman las, begegnete am anderen Morgen zuverlässig dem Milchmann und ihrer Herrschaft; die Phantasien des Romans konnten dagegen kaum die Oberhand gewinnen. Wenn damals auf der Bühne eine realistische Szene besonders gut gelungen schien, hörte man den Zuruf: „Das ist ja wie im Leben!“ - und das war als Applaus gemeint.

Wenn heute ein Passant mitansieht, wie ein Unbekannter auf offener Straße zusammengeschlagen wird, entfährt ihm der bewundernde Satz „Das ist wie im Fernsehen!“ Das Medium hat das Leben überrundet, was die Bildung des Erinnerungsvorrates der Zeitgenossen angeht.

Dieser ständig ausgeübte, meist unterhalb der Bewußtheitsschwelle bleibende Einfluß des Fernsehens ist zu einem großen Teil unabhängig von den manifesten und analytisch faßbaren Inhalten seiner Programme. Es ist das Medium selbst, das solche Einflüsse ausübt, nicht zuletzt durch die ihm eigentümlichen Präsentationsformen.

Ich verweise nur auf die Art, wie Nachrichtensendungen gebaut sind: Die einzelnen Filmsequenzen dauern nur wenige Sekunden, die Bilder verschwinden schon wieder, bevor man sie ganz in sich aufnehmen konnte, die Ausschnitte werden nahtlos aneinandergefügt, ergeben aber dennoch keinen kontinuierlichen Handlungsablauf, keine erzählte Geschichte. Die Logik der Ereignisse, falls es eine solche gibt, wird vom Sprecher beigesteuert - oder auch nicht. Mit der Zeit hat sich unser Auge so sehr an das hektische Bildertempo gewöhnt, daß es sich zu langweilen beginnt, sobald eine Ereignisfolge einmal ausnahmsweise im Zeitmaß des wirklichen Geschehens vorgeführt wird, ohne durch Schwenks oder Zooms beschleunigt, unterbrochen, dynamisiert zu werden.

So entsteht in uns das Bild einer Welt, die sich in hoher Geschwindigkeit bewegt, sich ständig kaleidoskopisch verändert, keine ruhige und schon gar keine unmittelbar verständliche Entwicklung kennt. Diese Struktur, die der Fernsehzuschauer immer wieder erlebt — und mit dem zwar falschen, aber täglich erneuerten Eindruck hoher Authentizität verbindet —, ist die eigentliche Botschaft des Mediums.

Sie lautet: Nur das, was sich verändert, ist wert, berichtet zu werden. Was dagegen bleibt, wie es ist und wo es ist, verdient weder Erwähnung noch Beachtung.

Die Menschen unserer Zeit erfahren von der weiten Welt mehr als jede Generation zuvor. Sie kennen das Straßenbild von Städten in Texas und von Schottland, die Tennisplätze in Australien sind ihnen so vertraut wie das Innere des Präsidentenpalais in Manila, sie wissen, wie es in den Slums von Rio und in den Ruinen von Beirut aussieht. Aber sie erfahren dies alles nicht aus erster Hand, nicht durch die unmittelbare Sinneswahrnehmung, nicht aus den Berichten eines persönlichen Gegenübers, sondern durch die Vermittlung von technischen Medien. Um das Zustandekommen und die Eigenart dieser neuen Art von Weltkenntnis zu bezeichnen, bietet sich der Begriff Mediatisie-rung an, wiewohl in einer neuen, anderen Bedeutung, als ihn Staatsrechtler und Historiker bisher benutzten.

Durch diesen Vorgang gehen

Satellitenkost wir der Möglichkeit verlustig, das uns von Presse, Radio und Fernsehen Zugetragene durch Vergleichen mit der unmittelbar beobachtbaren Realität zu überprüfen und damit zugleich die Redlichkeit der Ubermittler zu kontrollieren. Ohnehin ist die Kontrolle für den gewöhnlichen Sterblichen ein schwieriges Unterfangen und allenfalls im örtlichen Bereich möglich. Die Beliebtheit der Lokalberichterstattung geht u. a. darauf zurück.

Allein, es ist nicht nur die Verdrängung der unvermittelten Wahrnehmung, nicht nur die Suggestion einer Welt, die sich unablässig in minimalen Zeitschnipseln verändert, es ist noch ein drittes Medien-Phänomen, das zur Schwächung, ja zum Abbau überkommener Vorstellungen beiträgt.

Auch im ganz seriösen Nachrichtengeschäft hat alles, was von der Norm abweicht, was Konflikte enthält oder verspricht, was die allgemein akzeptierten Regeln verletzt, weitaus bessere Chancen, zur Nachricht gemacht, ausgewählt und weiterverbreitet zu werden. Ursache dieser Selektionskriterien ist nicht eine dubiose Neigung der Journalisten, sondern die Neugier des Publikums auf solche Art von Nachrichten.

Solange es sich um den aufregenden Einzelfall handelt, der gerade als Ausnahme Aufmerksamkeit erregt, mag sich nicht viel ändern an der allgemeinen Vorstellung, was gesellschaftliche Norm ist und bleibt.

Nimmt aber das Regelwidrige in der Berichterstattung überhand, wird es zum hauptsächlichen Inhalt der öffentlichen Erörterung — dazu noch in einer Zeit, in der viele Dinge gleichzeitig in Bewegung geraten sind -, dann fragt sich der Zeitgenosse, ob er mit seinen bisherigen Wertvorstellungen wirklich im Recht ist, ob er nicht einem Denk- und Verhaltensmuster folgt, das er längst hätte aufgeben sollen, weil sich offensichtlich nur noch wenige an ihm orientieren.

So entstehen Krisen des Wertebewußtseins. So werden Normen destabilisiert, auch und gerade dann, wenn kein offener Angriff geführt wird, der allemal auch Gegenkräfte auslöst. Der einzelne wird dann aufnahmebereit für Botschaften, die ihm bisher ganz fem lagen.

Schließlich nimmt er die von außen an ihn herangetragene Norm als seine eigene an — und dies alles nicht deshalb, weil er Argumente verstanden und eingesehen hätte, sondern deshalb, weil die Ausschließlichkeit, mit der über Abweichungen von der Norm berichtet und debattiert wird, ihm den Eindruck verschafft, das Normale sei zur Ausnahme geworden.

Der Autor, Mitherausgeber des „Rheinischen Merkur“, ist Professor für Kommunikationswissenschaft. Der Beitrag zitiert auszugsweise seinen Festvortrag anläßlich der Überreichung des Großen Leopold-Kun-schak-Preises 1986 am 8. März in Wien.

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