6869959-1978_19_14.jpg
Digital In Arbeit

Die janusköpfige Tradition

Werbung
Werbung
Werbung

Mehr als 400 Teilnehmer hatte die 32. Hauptarbeitstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt: Musikpädagogen, Komponisten, einige Interpreten, Musikwissenschaftler, Schüler und Studenten. So breitgefächert wie diese Zielgruppen ist auch das Arbeitsangebot: ein Kongreß (dem Generalthema der Tagung gewidmet: „Die Neue Musik und die Tradition“), Werk-Analysen, Kolloquien (über Neue Musik im Klavierunterricht und die elektronische Orgel), Instrumentalkurse und -Workshops (Ren6 Clemencic, Wien, machte mit „neuen Spiel- und Improvisationstechniken auf der Blockflöte“ begannt), Konzerte und Hörstunden. Die auf dieser Tagung fällige Vorstandswahl für das Institut spiegelt in ihrem Ergebnis ebenfalls das für ein aktives Musikleben gar nicht hoch genug einschätzbare Bemühen, Theorie und Praxis, Wissenschaft und Pädagogik einander anzunähern, ja wechselseitig aufeinander zu beziehen: An der Spitze wurde der Marburger Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann wiedergewählt, als Stellvertreter fungieren der Musiklehrer und Komponist Niels Fr6deric Hoffmann (Hamburg) und der Komponist, Musikpädagoge und -Schriftsteller Dieter Schnebel (Berlin).

Was geht in der Musik-Moderne vor? Im Zeichen der „Neuen Einfachheit“, der „Neuen Spontaneität“, in Anlehnung an Werbeetiketten auch Nostalgiewelle genannt, flutet längst vergangen und abgelegt Gewähntes als „mu-sica nova“ in die Konzertsäle und über den Äther. Das im jeweils jüngsten Werk eines Komponisten hörbare „Neue“ kann natürlich auch (wie der Schweizer Musikwissenschaftler Jürg Stenzl richtig bemerkte) ein D-Dur-Dreiklang sein: Aber welchen Stellenwert hat er dann? Wird dadurch das harmonische System in Frage gestellt,

in dem er ursprünglich erschien und das immer noch für die meisten Menschen im Umkreis der europäischen Kunstmusik die Grundlage der Hörerfahrung bildet, oder handelt es sich um eine bloße Rückwendung, Zeichen der „Regression“ - mit dem psychoanalytischen Beiklang des Rückzugs auf eine „frühkindliche“ Entwicklungsstufe? Das Generalthema der Tagung war jedenfalls janusköpfig; eine Klärung schien dringend geboten, wenn auch der von Reinhold Brinkmann formulierte Anspruch einer „Diagnose der Situation des Komponierens heute“ zu hoch gesetzt war, um eingelöst werden zu können.

Kein Zufall wohl, daß zu Beginn und am Ende des Kongresses, der diese Fragen auf anspruchsvoller intellektueller Ebene abhandelte, das entscheidende und womöglich weiterführende Stichwort von der latenten (verborgenen, unterschwelligen) Tradition fiel, und zwar von gegensätzlichen Positionen aus: Der einflußreiche Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus (Berlin) nannte es und schließlich, auf dem Komponistenforum am letzten Kongreßtag, legte Helmut Lachenmann (Hannover) allen Nachdruck darauf. Beide meinten aber Verschiedenes. Dahlhaus hatte Züge der (heutigen) Moderne in der überlieferten Musik im Sinn, die bislang nicht wahrgenommen wurden, weil man seinerzeit auf andere harmonische und formale Zusammenhänge sozusagen fixiert war; so gibt es Analysen von Beethoven-Sonaten unter dem Blickpunkt der neuen Wiener (Schönberg-)Schule, auf die sich auch Elmar Budde (Berlin) in seinem Analysekurs über Beethovens Klaviersonaten bezog. Diese „modernen“ Merkmale waren aber natürlich im jeweiligen Werk immer vorhanden. Daraus ist zu folgern: Nur im Kontext des jeweils Neuen kann Tradition „richtig“ erkannt werden, und sie ver-

ändert sich ständig, wirkt dann auch als eine Veränderte auf das neu Erscheinende ein.

„Latente Tradition“ - im Sinne von Dahlhaus“- ist also eine Art von Überlieferung, die erst aktualisierbar, zu vergegenwärtigen ist durch eine (vom Werk aus ge'sehen) spätere Entwicklung; in ihr erscheinen die als Anlage vorhandenen Strukturen - was genauso für Traditionen gilt, die- sich heute bilden. Es entsteht ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen dem Neuen und dem Älteren. So bedeute die Schwächung des Formbegriffs in der Neuen Musik keinen ästhetischen Mangel, sondern lediglich eine Veränderung, in der eine solche unterschwellige Tradition wirksam sei; ebenso ist die Ausdrucksbesessenheit so neu nicht,- wie sie sich zum jetzigen Zeitpunkt gibt, vielmehr als Spontanoder „Sturm-und-Drang“-Ästhetik auch im späten 18. Jahrhundert anzutreffen.

Für den Komponisten Lachenmann hingegen zeigt sich latente Tradition im „obligaten Widerstand des Schöpferischen gegen die Vorwegbestimmungen der verfügbaren Mittel“, im „damit verbundenen unvermeidlichen Ärgernis“ oder gar im „Schock der am verwalteten Objekt“ (das heißt an der Musik) „praktizierten Freiheit“. Diese Art von Tradition, die im Widerspruch stehe zur herkömmlichen Traditionspflege, möchte er auch kompositorisch offenlegen. Das bedeutet Widerstand gegen herrschende Konventionen, aber auch gegen die „Oberflächliche Bilderstürmerei“ der etablierten Avant-garde, das „Gruselgespenst vom Dienst“.

Die Nachgeborenen können freilich

- das zeigten die Forumskonzerte mit Arbeiten von Kompositionsstudenten

- das Gruseln nicht mehr lernen: Kaum jemand versucht sich noch am Schockieren, das Handwerk ist solide,

die Mittel sind pluralistisch. Die „Auswahl“ (sofern man davon überhaupt reden kann) war allerdings recht schematisch getroffen: Auf entsprechende Anfragen an die Musikhochschulen, die diese Konzerte auch finanzieren, wurden in der Reihenfolge des Eingangs 16 Stücke angenommen; die später eintreffenden fanden keine Berücksichtigung. Viele Zufälle und hochschulinterne Vorentscheide waren also mit im Spiel.

Der Taiwan-Chinese Chien Nau Chang, Schüler von Wilhelm Killmayer in München, legte ein einsätziges Streichquartett vor, in dem sich scheinbare Floskelhaftigkeit zunehmend als konstruktives Element von Innenspannungen erweist. Volker Blumenthaler (bei Jürg Baur in Köln) parodiert in „La Furia“ für Vioüne und Schlagzeug virtuose und theatralische Gesten auf unterhaltsame Weise, mit einem Schuß Strawinsky und einer Prise Jazz-Rock. Der Amerikaner Peter Castine, in Berlin studierend, verbindet in vier Stücken nach Texten von Cummings Sprache und Musik derart, daß die Qualitäten einander durchdringen. Gerd Kolkmeyer (Hannover) beeindruckte mit einem expressiven zweisätzigen Streichtrio, Friedrich-Wilhelm Dudda folgt in einem Stück für zwei Klaviere dem Impuls „kritischen Komponierens“ seines Essener Lehrers Nikolaus A. Huber. Kritisch erschien mir auch der Ansatz von Mathias Spahlinger, der bis zum Vorjahr bei Erhard Karkoschka in Stuttgart studiert hat: Seine „Vier Stücke“ für Stimme, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier, insgesamt vier Minuten dauernd, setzen der „Ideologie des Werkganzen“ (Spahlinger) ein Ausdrucksganzes von Strenge und Gebrochenheit entgegen. Man komponiert (auch) wieder „ador-nisch“; möglich immerhin, daß die theatralisch-sinfonische Phase nur kurzlebig ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung