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DIE NEUROSEN DER BEREISTEN

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Umfragen zufolge werden 1992 mehr als 60 Prozent auf Urlaub gehen und auch 1991 waren fast ebenso viele Österreicher auf Urlaub. Wie wirken sich diese Reiseintensität und diese Mobilität auf die Lebensbereiche der Bereisten aus?

Die Wichtigkeit des Reisens ist enorm: Für 47 Prozent der Österreicher ist das Reisen die Freizeitbeschäftigung schlechthin und auch ein Großteil des frei verfügbaren Haushaltseinkommens (4.750 Schilling pro Monat und Haushalt) fließt in die Bereiche Freizeit und Urlaub.

Somit kann man davon ausgehen, daß Reisen nicht nur in der individuellen Rangordnung ganz oben steht, sondern daß auch ein enormes geldliches Potential damit bewegt wird.

Zweifellos haben die letzten Jahrzehnte, gekennzeichnet durch intensive und zunehmende Reiseintensität gezeigt, daß Tourismus und Wohlstand zusammenhängen. Bruttonatio-nalprodukte, gesamtwirtschaftliche Kennzahlen und der Nutzen für die Makro Wirtschaft zeigen deutlich, daß Tourismus und Wohlstand positiv korrelieren.

Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere könnte die Überschrift tragen: Tourismus, Verarmung und. Überfremdung.

Tourismus ist oft einziger wirtschaftlicher Machtfaktor. Diese wirtschaftliche Abhängigkeit führt zur touristischen Monokultur und jener Lebensbereich, der in der Wichtigkeit an erster Stelle liegt, nämlich die Familie, erleidet gerade durch den Tourismus Schaden.

Die gesteigerte Individualmobilität (immerhin mehr als 50 Prozent der Urlauber gehen nach wie vor - trotz des Wissens, daß der private Pkw der Umweltverpester Nummer eins ist -mit dem privaten Pkw auf Reisen) führt zunehmend zu Umweltproblemen.

Diese Umweltprobleme - zwei Drittel der Österreicher sehen diesen Bereich sogar als zentralen Problembereich an - führen dazu, daß der Gast zum neuen Feindbild wird. Dies wird unweigerlich in den nächsten Jahren dazu führen, daß alternative Konzepte zur Individualmobilität entstehen müssen, nicht nur um den Umweltgedanken ernst zu nehmen, sondern vielmehr, um den Urlauber, den Gast, nicht zum Feindbild im Bereich des Straßenverkehrs werden zu lassen (obwohl natürlich für den einzelnen dadurch die Chance entsteht, sich nicht mit den eigenen Verhaltensveränderungen zwingend auseinanderzusetzen). Momentane Erfahrungen zeigen, daß nur durch empfindliche Preisforderungen das Mobilitätsbewußtsein erhöht werden kann.

Weiters zeigen Motiv- und Verhaltensforschungen, daß Urlaubs- und Alltagsverhalten auseinanderfallen. Man lebt lockerer, Jubel, Trubel, Heiterkeit, nicht aufs Geld schauen, generell aufgeschlossen sein, sind nur einige Verhaltensveränderungen im Urlaub und durch den Urlaub.

Kann sich jemand (ein Einheimischer) tatsächlich mit einer lockeren Lebensart anfreunden, ohne sich selbst im Verhalten zu ändern (Streß durch und mit Gästen)? Ist tatsächlich der Trubel nicht nervtötend? Führt zwangsläufig dieses Überdrüberur-laubsgefühl nicht zu einer Zerstörung des normalen Lebens?

Tatsache ist, daß zunehmend die einheimische Bevölkerung in tourismusintensiv genutzten Gebieten jene Gegenden meidet, in der sich viele Gäste aufhalten - insofern kommt der Urlaubsgast nie in den Genuß, einen Urlaubseinheimischen kennenzulernen, denn dieser meidet wohlweislich jene Gegenden, welche sich durch intensive touristische Nutzung auszeichnen.

Weiters, so zeigen neueste Studien, sind die Gäste auch „schuld" an zu hohen Preisen (PreisVLeistungver-hältnisse stimmen für die Einheimischen nicht mehr). Insofern bewirkt diese Verschiebung des Preisniveaus vor allem für Einheimische das Problem, sich gewisse Dinge nicht mehr leisten zu können - die Unzufriedenheit wächst. Diese Unzufriedenheiten führen zwangsweise zu einer generellen Abneigung gegenüber dem Gast, der es sich leisten kann und sich so richtig finanziell auslebt - eine wirtschaftlich erfreuliche Sache.

Natürlich leugnen viele Einheimische nicht weg, daß Gäste dafür verantwortlich sind, daß infra- und suprastrukturelle Einrichtungen geschaffen werden. Doch was nützen diese Einrichtungen, wenn sie dann doch wieder dazu führen, daß der Einheimische, sei es durch das hohe Maß an „Belagerung" durch Gäste oder durch den hohen Preis nicht in der Lage ist, dies wirklich zu benutzen?

Der österreichische Tourismus und besonders der steirische Tourismus zeichnen sich durch Kleinstrukturiert-heit aus. Somit sollen also betriebswirtschaftliche Zwerge zu gesamtwirtschaftlichen Riesen werden. In vielen Fällen bedingt dies eine starke Einbindung der gesamten Familie in das touristische Geschehen.

Das positive Wort „Familienhotel" (mit Familienanschluß), eine „Fami-lienferienanlage" und und und... werden bald zum Negativum, schaut man sich die Zufriedenheitsraten der einzelnen Familienmitglieder an.

Wohlwissend, daß der Gast für die wirtschaftliche Situation verantwortlich ist, sehen sehr viele der jüngeren ' Familienangehörigen ihre Zukunft nicht im touristischen Bereich. Diese Unzufriedenheit zeigt deutlich, daß der gesamte Lebensbereich einer „touristischen Familie" weitgehend dem Gast zur Verfügung gestellt wurde und dies führt zwangsläufig zur Vereinsamung beziehungsweise zum Nichtfunktionieren der kleinsten Einheit einer Wirtschaft und Gesellschaft. Dies zeigen auch die neuesten Daten: die Österreicher in Summe sehen sich eigentlich nicht als jene, welche die Gastlichkeitsfalle bieten müssen. Touristisches Selbstbewußtsein und intelligente Emanzipation werden als Ausweg aus dem Aufgefressenwerden gesehen! Die gesunde Abkehr wächst in den intensivst genutzten Gebieten.

Man identifiziert sich zwar noch befriedigend mit dem Gast, aber man will keineswegs mehr das eigene und familiäre Innenleben dem Gast zur Schau bieten beziehungsweise anbieten. Dies ist ein ehrlicher Weg in Richtung intelligenter Qualitätstourismus und über den Umweg dieser gesunden Distanz ist auch ein funktionierendes PreisTLeistungsverhält-nis möglich und damit verbunden ein höheres Maß an Makrowertschöpfung und individueller Zufriedenheit. Als erfreuliches Abfallprodukt würden auch die „Berufsbilder" im Tourismus akzeptierter und erstrebenswerter sein.

Niedrigere Fluktuationsraten, geringere Job-drop-out-Raten kämen dem serviceorientierten Qualitätstourismus sehr entgegen! Und die gesamte Branche würde zu einem gesunden Selbstbewußtsein kommen!

Im Prinzip beginnt das Landschaftsfressen mit zu großzügig angelegten Bauzonen und sieht man sich typische Ferienorte an, so" haben sie alle eines gemeinsam, nämlich zu großzügig angelegte Bauzonen.

Daraus resultiert, daß Landschaftsschonung nur ein Schlagwort ohne Leben ist und eines ist klar, daß eine Landschaft, welche gefressen wurde (durch Bebauung) nicht mehr lebenswert ist für Einheimische. Und es beginnt mittel- und langfristig die Flucht aus touristischen Ballungszentren. Sie sind dann nur mehr Zentren der Erwerbstätigkeit und haben dann keinerlei Lebensqualität.

Genau der umgekehrte Vorgang, nämlich die Ansiedelung in stark touristisch genutzte Gebiete, kann man momentan in afrikanischen Staaten erkennen. Künstliche Touristenghettos ohne Persönlichkeit sind dann die Folge - Austauschbarkeit ist damit nur noch eine Frage der Zeit! Somit bedeutet das Schlagwort „Intelligenter Tourismus" nicht ein Denken an morgen und übermorgen, sondern ein Denken in Dekaden. „Landschaftsfressende" Touristen verursachen eine Abwanderung der Einheimischen und führen damit zu künstlichen Touristenghettos ohne Lebensqualität -ohne Profil beim Gast!

Landwirtschaft und Tourismus ergänzen sich. Dies gilt vor allem in bergigen (hügeligen) Gebieten (auch der Steiermark). Auf der einen Seite ist für viele Landwirte der Tourismus ein netter Nebenverdienst und auf der anderen Seite übernimmt wieder die Landwirtschaft für den Tourismus wichtige landschaftspflegende Aufgaben. Wird die Landwirtschaft zurückgedrängt, bedeutet das zwangsläufig auch mittel- und langfristig ein Zurückdrängen der „Landschaft". In dem Moment, wo also der Nebenverdienst Tourismus zur Haupteinnahmequelle wird, muß man damit rechnen, daß wichtige landschaftsprägeri-sche Aufgaben nicht mehr wahrgenommen werden. Insofern ändert sich auch die ganze gesellschaftliche Zusammensetzung und die gesamten gesellschaftlichen Werthaltungen -alles ein „Beitrag" hin zur Monokultur Tourismus.

Nachdem man aus Studien weiß, daß der Urlaub immer zu einem Erlebnis „in einem zweiten Zuhause" werden sollte, drängt sich die Frage auf, wie sieht das gesamte Problemfeld um die Ferienwohnungen aus. Im Prinzip zeichnen sich gesunde Ferienorte dadurch aus, daß zumindest die Hälfte aller Ferien- und Zweitwohnungen im Besitz Einheimischer sind. Dies bedeutet, daß sämtliche Gemeinschaftsstrukturen aufrecht erhalten werden. Wird dieser Wert unterschritten (in den meisten Ferie-norten ist dies leider der Fall), kann man davon ausgehen, daß diese unattraktiven Orte zu einer weiteren Abwanderung führen. Auch wird es problematisch, wenn die Anzahl der Touristen jene der Ortsansässigen um ein mehrfaches überschreitet. Wenn also die Tourismusintensität subjektiv und objektiv von den Einheimischen als zu hoch empfunden wird, beginnt die Problematik.

Die fiktive Grenze in diesem Bereich dürfte bei etwa drei Betten pro Ortsansässigem liegen. Jedes andere Verhältnis führt zu künstlichen, ghettohaften Lebensstrukturen. Verhaltensveränderungen und Werthaltungsverschiebungen der Einheimischen sind dann das Resultat.

All diese skizzierten Veränderungen stehen (Gott sei Dank) erst am Anfang. Glaubt man (vor allem bundesdeutschen) Studien, wird sich auch der Urlauber noch mehr in seinem Urlaubsverhalten verändern. Fadesse, Kaufrausch beziehungsweise Kauflust werden stark zunehmen. Insofern wird man damit rechnen müssen, daß alle angerissenen Veränderungen, wirkt man nicht aktiv, intelligent und umfassend entgegen, tatsächlich in den nächsten drei Jahren eintreten.

Noch steht der Weg für ganzheitliche intelligente Lösungen offen. Aber die Uhr steht schon fünf vor zwölf und solange der Tourismus noch in Nächtigungszahlen seinen Erfolg mißt und anderen quantitativen Maßzahlen, solange wird der touristische Anbieter als Individuum kaum die Chance haben, den Tourismus in intelligenter, gebührender Weise zu verspüren. Der Grundsatz sollte lauten: solange alle direkt und indirekt vom Tourismus Betroffenen in Orten, Gebieten und Regionen nicht glücklich sein können, scheint auch der mittel- und langfristige Weg zum touristischen Nachfrager nicht gefunden zu sein. Insofern müßte man sämtliche touristischen Überlegungen damit beginnen, wie empfindet beziehungsweise wie lebt es sich aus der Sicht der Bereisten, und erst dann kann man mit touristischen Umsetzungen beginnen.

Das soziale Selbstbewußtsein muß sich bei den Bereisten verändern -versöhnliche, harmonische „kulturelle" Gesamtkommunikation kann dabei helfen! Egoismen aller Art bedürfen eines Überdenkens, damit eine Freizeit-Zeit-Kultur entstehen kann.

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