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Uberlaufen, zersiedelt, bedroht

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Vom Tourismus und vom Verkehr erschlossen, gerät der Alpenraum zunehmend an die Grenzen seiner ökologischen Möglichkeiten. Eine Konferenz der Anrainerstaaten stellte sich wieder einmal diesem Problem.

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Vom Tourismus und vom Verkehr erschlossen, gerät der Alpenraum zunehmend an die Grenzen seiner ökologischen Möglichkeiten. Eine Konferenz der Anrainerstaaten stellte sich wieder einmal diesem Problem.

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Seit Beginn der Besiedelung des Alpenraumes durch die verschiedensten Völker war das Leben und Wirtschaften primär auf die Selbstversorgung ausgerichtet. Dabei entstand eine verblüffende Vielfalt kultureller und sozialer Errungenschaften und durch Jahrtausende haltbare Konzepte.

Obwohl die Höhen der Gipfel gleichgeblieben sind, sind die Ge-birgsregionen heute dennoch in neue Dimensionen hineingeraten: Eine hohe Bevölkerungsdichte in den Tallagen, ein stark überlasteter Verkehrs-, Wirtschafts- und Erholungsraum sind ebenso Kennzeichen wie die Bedeutung der Alpen als Trinkwasserressource und Bückzugsgebiet für Tiere und Pflanzen.

Die internationale Alpenschutzkommission CIPBA (Commission Internationale pour la Protection des Alpes) begann 1986 mit der Entwicklung einer Alpenkonvention. Im Oktober 1989 wurde eine 89 Punkte umfassende Grundsatzresolution durch die Umweltminister der Alpenstaaten in Berchtesgaden verabschiedet. Hauptthemen waren Verkehr, Berglandwirtschaft, Tourismus, Naturschutz und Landschaftspflege, Energie- und Wasserhaushalt. Bis heute haben fünf der neun Vertragspartner die Bahmenkonvention ratifiziert, (Österreich im Jänner 1994).

Damit wird per Abkommen erstmals im Alpenraum dem Baubbau an Bohstoffen durch die Alpenstaaten ein Biegel vorgeschoben. Heiß um-fehdet, wild umstritten sind insbesondere die Bereiche Transit und Tourismus.

Unter dem vielversprechenden Motto „Tun und Unterlassen” trafen sich Ende September zur heurigen CIPRA-Jahreskonferenz in Triesen-berg etwa 150 Teilnehmer aus allen Alpenländern. Unter den acht behandelten Thesen ist These 3 wohl die bedeutungsvollste:

„Der derzeitige Strukturwandel erzwingt im Berggebiet Änderungen der Flächennutzung. Mit der Neubewertung der Flächennutzung muß auch ein Bedeutungswandel landwirtschaftlicher Flächen in bezug auf die Bevölkerungszunahme verbunden sein. Ein statistisches Festhalten an den heutigen Verteilungsmustern genutzter Flächen ist daher genauso zu hinterfragen wie die Intensität der gegenwärtigen Nutzungen. Es gilt das Verhältnis von ,Tun und Unterlassen' neu zu bestimmen und zu vereinbaren. Von daher hat die Nachhaltigkeit eine besondere Bedeutung. ,Tun und Unterlassen' müssen sich den Besonderheiten der Fläche beziehungsweise der Begion anpassen, um den Geboten wirtschaftlicher Nachhaltigkeit gleichermaßen zu entsprechen.”

Die Berge kommen auch Jahrmillionen nach ihrer Geburt nicht zur Buhe. Weniger als ein Viertel des alpinen Baumes kann überhaupt dauerhaft besiedelt werden. Dadurch ist der Alpenraum zu einem extrem sensiblen Ökosystem geworden, in dem jede Veränderung Folgen zeigt. Auch wenn sie erst nach Jahren sichtbar werden.

100 Millionen Tonnen Güter und 200 Millionen Personen queren pro Jahr die Alpen

Die Bevölkerung ist seit 1938 auf elf Millionen angewachsen. Und obwohl der Baum begrenzt ist, erscheint ein Ende des Zuwachses nicht in Sicht. Ähnlich ist es mit dem Verkehr. Derzeit werden zwischen 90 und 100 Millionen Tonnen Güter durch die Alpen geführt, davon leider zu 60 Prozent auf der Straße. Und von den 150 bis 200 Millionen Personen, die die Alpen im Jahr queren, benützen ebenfalls 80 Prozent die Straße.

Die Alpenkonvention versucht hier gegenzusteuern. Zum ersten Mal wurde grenzübergreifend für eine europäische Begion eine Vernetzung der Kultur, der Wirtschaft, der Umwelt im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung angepeilt. Das Ziel besteht in einer gleichwertigen Lebensqualität unter Erhaltung regionaler Vielfalt und hoher Umweltqualität. Der Weg geht über nachhaltiges Wirtschaften.

Das sagt sich leichter, als man es tatsächlich durchführt, denn „nachhaltiges Wirtschaften” bedeutet in letzter Konsequenz auch Verzicht auf Wachstum. Das steht aber den gängigen Modellen von Gewinnmaximie-rang diametral entgegen.

Die Angst vor ökonomischen und sozialen Einbußen ist sehr groß. Zu viele, gerade im Tourismus, betrachten die Umgebung außerhalb ihres Hotels als frei verfügbare „wilde Zone”, in der alles erlaubt ist.

Es war aufschlußreich zu hören, daß Martin Uitz, Direktor der Salzburger-Land-Tourismus GmbH sich dezidiert gegen eine weitere Erschließung durch Straßen ausgesprochen hat, eine Mengenbegrenzung von Bettenzahlen fordert, gegen Genehmigungen für Unterkunftsbetriebe in Einzellagen auftritt, gegen Subventionen für bauliche Erweiterungen und gegen die Errichtung weiterer Aufstiegshilfen, wie auch gegen flächendeckende Beschneiung.

Derlei Aussagen klingen in Tirol teilweise noch ketzerisch. Man sieht sich um die Früchte des freien Marktes betrogen. Aber der Markt war nie frei. Denn der Markt ist Ausdruck eines Mechanismus, in dem es Gewinner und Verlierer gibt. Und Verlierer sind in erster Linie die Natur und die Bewohner der alpinen Lagen.

Hans Weiss, Geschäftsführer des „Fonds Landschaft Schweiz”, zeigte beeindruckend in einer simplen Graphik, daß zum Zeitpunkt erster landwirtschaftlicher Nutzung durch den Menschen, etwa 8.000 vor Christus, der Mensch noch eine Naturlandschaft vorfand, die durch die Kultivierung ständig zurückging und bis zur massiven Inanspruchnahme maschineller Mittel ab etwa 1950 zu einer „naturnahen” Landschaft führte. Aber auch dieses Segment wird ständig kleiner.

Daher ist, als Besümee seiner Aussage, die Kenntnis der Geschichte ein unverzichtbarer Bestandteil für die positive Sicht der Zukunft. Geht es dabei um nicht weniger als um die Wiederherstellung ursprünglicher Zustände. Dies heißt mit anderen Worten „Wildnis”.

„Wieviel Wildnis ist nötig?”, fragte Georg Grabherr, Professor für Vegetationsökologie an der Universität Wien, in seinen Ausführungen zum Thema freie Naturentwicklung. Wildnis war der Feind des Menschen, den es zu besiegen galt. Daher sollte sie in die landwirtschaftliche Nutzung integriert werden. Das Vorrücken urwaldähnlicher Vegetation wird als Niederlage des Menschen betrachtet.

Professor Bernhard Crettaz vom ethnographischen Museum in Genf entwarf in einem engagierten, sehr emotionalen Impulsreferat ein kontrastreiches Bild der Alpen und ihrer Bewohner. Aufgrund vieler Gespräche mit ihnen kommt er zu dem Ergebnis, daß eigentlich immer die Städter die Bergwelt verändert haben.

Und gerade den Bewohnern der Städte waren die Berge aufgestellte Ebenen, die es zu glätten galt — und wenn man sie schon nicht einzuebnen vermochte, dann sollten sie wenigstens mühelos zu besteigen sein.

Die Vorstellungen der Städter waren schwer unter einen Hut zu bringen: Einerseits wollte man, daß die Bevölkerung in den Tälern ihre Traditionen bewahrt, und andererseits wollte man keine rückständigen Gebiete.

Der Städter liebt das - idealisierte - rauhe, harte Leben, aber nur für einen begrenzten Zeitraum (den Urlaub, von dem er jederzeit in die Annehmlichkeiten der „Zivilisation” zurückkehren kann). Aber im Alltag will er diesen konservativen, traditi-onsverbundenen Kulturraum um keinen Preis integriert wissen. So wurde den Bergbewohnern eine städtische Vorstellung aufgezwungen.

In diesem Bild schwingt eine gewisse Verachtung des bäuerlichen Bergbewohners mit. Denn sein Leben ist schmutzig, rückständig, unflexibel und, mit dem Auge des Städters gesehen, nicht zivilisiert.

Früher hieß es: Werdet modern! Und heute: Werdet wieder ursprünglich!

Die Entwicklung der Technik bewirkte, daß dieser Teil der Bevölkerung zwar nicht mehr rückständig ist, aber auch nicht mehr authentisch. Hieß die Aufforderung der Städter an ■die Bergbewohner früher: Werdet modern!, so lautet sie jetzt: Werdet wieder ursprünglich! Diese vom Tou-rimus erhobene Forderung muß ja die Bergbewohner verrückt machen. „Modern sein” hieße demnach erneut: Das tun, was die Stadt will.

Die Alpenkonvention ist eine Überlebensstrategie für die Alpen. Die massive Verschwendung von Kulturgründen und damit Erholungsräumen zu Lasten maßloser Zer-siedelung, das grenzenlose Erobern abgelegener Hochgebirgsregionen mittels mechanischer Aufstiegshilfen haben einen Punkt erreicht, an welchem sich diese Art von Zivilisation in Zerstörung wandelt.

So ist die Erstellung eines Zonenplanes in Liechtenstein zum Beispiel heute noch ein Politikum. Aufgrund hoher Grundstückspreise werden Siedlungen in finanziell zwar günstige aber geologisch äußerst bedenkliche Zonen gebaut, die zudem durch Murenabgänge, Stein- und Schneelawinen extrem gefährdet sind.

Die Probleme wachsen derzeit weiter und die anstehenden Lösungsvorschläge drängen massiv auf ihre Durchführung. Man wird sehen, wie wild die Alpen bis zur Nächsten Konferenz, die 1996 in Innsbruck stattfinden wird, geworden sind.

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