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Die Offensive vor dem Regen

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Seit Tagen führt Nordvietnam eine Offensive gegen den Süden, von der jeder wußte, daß sie kommen würde. Aber die meisten Beobachter dachten, daß sie erst nach dem Ende des amerikanischen Truppenabzuges anrollen würde. Oder auch noch etwas später, um den Amerikanern die Möglichkeit zu geben, ihr Gesicht zu wahren, unter dem Motto: Wir haben alles getan, um die Südvietnamesen soweit zu bringen, daß sie sich selbst verteidigen können; wenn sie es nun nicht schaffen, ist es ihre Schuld. Amerika kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden.

Die große Offensive kam früher. Viel spricht dafür, daß dabei keineswegs nur politische Gründe maßgeblich waren. In Südostasien ist es so, daß ein Frontverlauf, der knapp vor der Regenzeit durch eine Offensive geschaffen wurde, vorn Gegner, der zum Zurückweichen gezwungen wurde, monatelang kaum noch korrigiert werden kann. Erst wieder nach der Regenzeit.

Hält die zwar zahlenmäßig starke, aber organisatorisch noch unfertige und moralisch keineswegs konstituierte südvietnarnesische Armee diesen Stoß aus? Das Pentagon vermeidet jeden Kräfteeinsatz auf dem Boden — besser gesagt, der Präsident vermeidet ihn, denn er würde damit einem Konzept untreu, das seit Monaten das Rückgrat seiner Vietnampolitik bildet. Helfen aber muß er. Denn die Verbündeten Amerikas scheinen den kommunistischen Truppen nicht mehr gewachsen zu sein, und ein Stoß auf Saigon oder gar der Verlust von Saigon wäre das Ende jeder südvietnamesischen Regierung. Ein Schlag, den Nixon im Wahljahr kaum verkraften könnte, der aber auch für jeden möglichen Nachfolger eine schwere Last bedeuten würde.

Viele Beobachter sind der Meinung, daß Amerikas Armee im Erdkampf das Blatt selbst dann kaum noch wenden könnte, wenn der Präsident dies wünschen sollte, denn der Gl in Vietnam ist demoralisiert. Er will nur noch nach Hause, möglichst schnell, und ohne vorher sein Leben für eine Sache zu riskieren, die er nicht mehr versteht beziehungsweise mit der er sich nicht identifiziert. Aber wen sollen die amerikanischen B-52-Verbände angreifen, welche Ziele soll die Schiffsartillerie der siebenten Flotte beschießen?

In den letzten Tagen wurden Teile Südvietnams bombardiert, die nur noch wenige hundert Kilometer von Saigon entfernt waren. Aber ein Bombardieren der Erdtruppen hat sich als wenig erfolgreich erwiesen, schon in früheren Phasen des Vietnamkrieges. Ein Angriff auf Nordvietnam heißt aber Angriff auf Städte, Bahnlinien, Industrieanlagen, heißt Verluste in der Zivilbevölkerung, heißt Prestigeverlust für Nixon. Ein schwerer Entschluß knapp nach dem Besuch in Peking, knapp vor der Reise nach Moskau.

Denn was würde es bedeuten, wenn eine Eskalierung des Krieges in Vietnam eine Absage des Besuches in Moskau zur Folge hätte? Was würde dies für die Welt bedeuten, vor allem aber, was für Nixon? Es wäre das Ende seiner Wahlchancen. Nixons gesamte politische Option für die nächste Zukunft, besonders der

Abbau des kalten Krieges, der langsam, aber doch angelaufen ist, wäre in Frage gestellt. In Frage gestellt würden in einem solchen verschlechterten Klima ferner die SALT-Verträge, die Ostabmachungen Bonns, die Berlinverträge und manches andere.

Was war der Zweck der Offensive? Wer hat sie initiiert? Hatten die Falken in Moskau Angst, die Tauben könnten schon zu weit gegangen sein? Wollte China Nixon auf dem Weg nach Moskau ein Bein stellen? Oder wollte Nordvietnam zeigen, daß es auch noch ein Wort mitzureden hat?

Oder wollten alle diese Kräfte, zusammenwirkend, in ihrem ewigen Mit- und Gegeneinander, vor den Gesprächen in Moskau vollzogene Tatsachen schaffen, die jede künftige Vietnamregelung tiefgreifend beeinflussen müßten?

Es deutet sehr viel darauf hin, daß die nordvietnamesische Offensive auf einen Geländegewinn gerichtet ist, der dem Vietkong die Möglichkeit verschaffen soll, sich in einem Teil Südvietnams ganz offiziell als Regierung zu etablieren. In den Pariser Gesprächen ging das große Tauziehen bekanntlich meistenteils um die Frage, ob der Vietkong berechtigt sei, mitzureden, wobei zumindest hinter den Kulissen Amerika zu wesentlich mehr Entgegenkommen bereit schien als der unbequeme südvietnamesische Verbündete.

Sollte aber nun der Vietkong sich tatsächlich in einem Teil Südvietnams als Regierung konstituieren, mit einer festen Hauptstadt, die ihm kaum noch jemand streitig machen könnte, dann wären die Weichen für alle weiteren Vietnamgespräche, gleichgültig, ob in Paris, in Moskau oder wo immer auf der Welt, endgültig gestellt. Vietnamgespräche könnten nicht mehr ohne den Vietkong geführt werden und auch Südvietnam könnte sich gegen eine Einschaltung des Vietkong nicht mehr wehren. Denn die Realität hieße dann: Drei Vietnam. Nordvietnam, Südvietnam und das „befreite Vietnam“.

In den letzten Tagen hatte es den Anschein, als müßten Südvietnam und seine amerikanischen Beschützer fast schon froh sein, im Besitz Saigons mit einigem Hinterland zu bleiben. Mag sein, daß die Mahlzeit nicht ganz so heiß gegessen wird, aber die Konstituierung eines dritten Vietnam scheint nun kaum noch zu verhindern.

Eine solche Entwicklung hat allerdings auch positive Aspekte für die USA. Denn Nixon ist zu intelligent, um nicht längst zu wissen, daß keine Vietnamrechnung ohne den Vietkong gemacht werden kann, bloß der Verbündete in Saigon blieb hart. Möglich, daß per Saldo die große Offensive nicht zuletzt auch ein Problem der amerikanischen Bündnispolitik ebenso brutal wie wirkungsvoll gelöst hat.

Es sind daher die nächsten Tage wieder entscheidende Stichtage. Sie werden zeigen, ob sich die USA ein Eigengoal geschossen haben, als sie die Verhandlungen in Paris brüsk abbrachen. Oder ob sie damit den Ball lediglich ins verbündete südvietnamesische Tor geschossen haben — wissend oder auch nicht.

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