Wahlarztpraxen: ein verzichbarer Luxus?
Um die Schwierigkeiten bei der Nachbesetzung offener Kassenstellen zu lösen, rüttelt man nun am Wahlarztsystem. Doch damit zäumt man das Pferd von der falschen Seite auf. Ein Gastkommentar.
Um die Schwierigkeiten bei der Nachbesetzung offener Kassenstellen zu lösen, rüttelt man nun am Wahlarztsystem. Doch damit zäumt man das Pferd von der falschen Seite auf. Ein Gastkommentar.
Seit Langem gibt es Vorschläge zur Reform des Kassenarztbereichs. Nun hat Andreas Huss, Vizeobmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖVG), diese unendliche Debatte einmal mehr angeheizt: Geht es nach ihm, dann sollte das Wahlarztsystem zurückgedrängt oder gar abgeschafft werden, um die kassenärztliche Versorgung zu verbessern. Die Antworten waren heftig – und zeigen die diametralen Positionen von Krankenkassen und Ärztekammern. Das, worum es geht, bleibt aber einmal mehr unterbelichtet: die bestmögliche Versorgung möglichst vieler Patient(inn)en in einem solidarischen Gesundheitssystem!
Vorab: Das Ziel, den kassenärztlichen Bereich zu stärken und damit zukunftsfit zu machen, ist unbestritten. Ob es sinnvoll ist, dabei primär und als Erstes die Wahlärzte in den Blick zu nehmen, ohne zuvor die Rahmenbedingungen im kassenärztlichen Bereich zu verbessern, darf jedoch bezweifelt werden. Kein Wahlarzt wird bei gleichbleibendem Umfeld bereit sein, freiwillig zu wechseln. Hier großen Druck oder gar Zwang auszuüben, wird zu beträchtlicher Unzufriedenheit führen – und damit wiederum zu einer schlechteren Patientenversorgung. Denn das kassenärztliche System ist bereits jetzt überlastet: Wartezeiten von mehreren Monaten auf Facharzttermine werden ebenso gemeldet wie Aufnahmesperren bei Gynäkolog(inn)en und Hausärzten. In ländlichen Gegenden gibt es im Bereich der Kinder- und Jugendheilkunde sowie der Psychiatrie oft gar kein Versorgungsangebot. Bisherige Wahlarztpatienten in den Kassenbereich zu lenken, würde diese Situation noch weiter verschärfen und die „Fünf-Minuten-Medizin“ zuspitzen.
Reine „Zweiklassenmedizin“?
Aber ist das Wahlarztsystem nicht per se Ausdruck von „Zweiklassenmedizin“, wie manche meinen? Nicht zwingend. Grundsätzlich spricht in einem offenen, liberalen Gesundheitssystem nichts gegen eine zusätzliche wahlärztliche Versorgungsmöglichkeit. Es muss und soll in der Autonomie des Menschen liegen, sich – zusätzlich zu den verpflichtenden Sozialversicherungsabgaben – noch weitere finanzielle Ausgaben für die eigene Gesundheit zu leisten. Die Voraussetzung ist freilich, dass der kassenärztliche Bereich eine angemessene und gute Versorgung aller sozialversicherten Patient(inn)en bietet: dass die Wartezeiten eben nicht unendlich sind und dass genügend Zeit für die ärztliche Betreuung bleibt – und damit auch für das ärztliche Gespräch und heilsame „Zuwendungsmedizin“.
Wie viel öffentliches Geld derzeit in den Kassen- oder Wahlarztbereich fließt, ist dabei nicht leicht zu eruieren: Weil bei Wahlärzten nur geringe Beträge von der Kasse refundiert werden (maximal 80 Prozent des Kassentarifs, aber nicht des meist höheren Arzthonorars), reichen viele Patienten ihre Rechnung erst gar nicht zur Rückerstattung ein. Klar ist nur die Dringlichkeit einer Reform: Wenn sich Mindestpensionist(inn)en einen Termin beim Wahlarzt vom Mund absparen müssen, weil jener beim Kassenarzt in weiter Ferne liegt, ist eine rote Linie überschritten.
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