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Ein neuer Föderalismus

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In seinem 1971 erschienenen Buch „Die föderale Macht“ klagt J.-J. Servan-Schreiber das „älteste und meistveraltete“ Regierungsmodell, den Zentralismus, an und macht seine Verkörperung in Paris für die wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit Frankreichs verantwortlich. War es bis vor kurzem noch notwendig, das politische Gegenkonzept, den Föderalismus, gegen den Vorwurf,zu verteidigen, ein fortschritthemmendes verfassungsrechtliches Relikt zu sein, so hat sich diese Lage in den siebziger Jahren entscheidend gewandelt.

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In seinem 1971 erschienenen Buch „Die föderale Macht“ klagt J.-J. Servan-Schreiber das „älteste und meistveraltete“ Regierungsmodell, den Zentralismus, an und macht seine Verkörperung in Paris für die wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit Frankreichs verantwortlich. War es bis vor kurzem noch notwendig, das politische Gegenkonzept, den Föderalismus, gegen den Vorwurf,zu verteidigen, ein fortschritthemmendes verfassungsrechtliches Relikt zu sein, so hat sich diese Lage in den siebziger Jahren entscheidend gewandelt.

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Zwar hatte die internationale Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg den Wert einer föderalistischen Staatsorganisation praktisch und theoretisch unter Beweis gestellt. Zahllose wissenschaftliche Analysen hatten sich auch mit den zentraleuropäischen Bundesstaaten, BRD, Schweiz und Osterreich, beschäftigt und die Vorteile der Gliederung eines Staatswesens in selbständige Länder statt in unselbständige Verwaltungsdistrikte klargemacht. Die Vervielfachung der gesellschaftlichen Initiativen, die Stärkung des Rechtsstaates durch Aufbau der vom „Parteienstaat“ abgebauten „horizontalen Gewaltentrennung“ in der „Vertikalen“, die Intensivierung der Demokratie, die Verbreiterung der politischen Verantwortungsbasis durch Mitregierung einer Bundesopposition auf Länderebene, die Auflockerung der Parteienhierarchie — all das sind moderne Leistungen des Föderalismus, ganz abgesehen von der Erhaltung wertvoller, historisch gewachsener Kulturräume.

Paris—Wien

Aber in der politischen Wirklichkeit war der ebenso schnell wie systematisch fortschreitende Zentralismus eine nicht zu übersehende Tatsache. Ein trauriges Beispiel für diese Entwicklung war und ist Österreich. Wiewohl es die Länder waren, aus denen sich zunächst der monarchische Staatsverband aufbaute, es die Länder waren, die nach dem Zerfall der Monarchie durch ihren Zusammenschluß zum Bundesstaat die Erste Republik schufen, und es abermals die Bundesländer waren, die der Zweiten Republik zum politischen Leben verhalfen, wies und weist ihnen die Bundesverfassung eine außerordentlich schwache staatsrechtliche Position zu. Aber selbst diese Position — gekennzeichnet durch eine völlig einflußlose Länderkammer, den Bundesrat, und ein erdrückendes kompetenzmäßiges Übergewicht des Bundes — wurde bis in die sechziger Jahre hinein laufend abgebaut. Den Ländern wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Einrichtung der Landesbürgerschaft genommen, so daß sie Staaten ohne Staatsbürger wurden. Die Kompetenzverteilung wurde Schritt für Schritt weiter zugunsten des Bundes verschoben, so daß man schon seit längerer Zeit von einer „schleichenden Gesamtänderung der Bundesverfassung“ sprach. Ein 1968 von der Regierung Klaus unternomme-

ner Versuch, die während der Besatzungszeit zugunsten des Bundes beseitigten Sicherheitskompetenzen der Länder wiederherzustellen, stieß auf 91 sozialistische Nein-Stimmen und verfehlte damit die verfassungsmäßig erforderliche Mehrheit. Im Verfassungsgerichtshof sind die Länder kraß unterrepräsentiert; seine Rechtsprechung wird zu Recht als bundesfreundlich bezeichnet. Dazu kommt die Rolle Wiens als bevölkerungsgrößtes Bundesland, Sitz der Zentralbürokratie des Staates und der Parteien. Servan-Schreiber stellt bezeichnenderweise neben das Verhältais Paris—Frankreich als einziges gleich negatives Beispiel das Verhältnis Wien—Österreich. Auch in seiner Eigenschaft als Land macht sich Wien immer wieder zum Sprecher von Bundesinteressen gegen die Länder und verhindert damit eine einheitliche Länderfront. (Als jüngstes Beispiel sei hier die Anfechtung eines Bundesgesetzes genannt, das den Ländern bescheidene Mitwirkungskompetenzen auf dem Gebiete der Gendarmerieorganisation einräumte. Wien focht dieses Gesetz wegen Einschränkung der Kompetenzen des Bundesministers für Inneres an, während in dem Verfahren sogar die Bundesregierung taktvoll schwieg und von der sozialistischen Parlamentsfraktion keinerlei Anstalten gemacht worden waren, die Kompetenzen des sozialistischen Innenministers voll wiederherzustellen. Das in diesem Verfahren ergangene Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6. Dezember 1972, G 41/72, sei hier ausdrücklich erwähnt als Rechtsdenkmal dafür, daß das Bundesland Wien einmal mehr sich anmaßte, bundlicher als der Bund zu sein.) Es ist klar, daß eine derart schizophrene Politik Wiens auf die föderale Atmosphäre nur vergiftend wirken kann. Ein „Forderungsprogramm der Bundesländer“, abzielend auf eine zeitgemäße Vermehrung des Kompetenzbereiches der Länder, hat der Wiener Zentralismus seit zehn Jahren unerfüllt gelassen. Eine derzeit in parlamentarischer Behandlung stehende Regierungsvorlage sieht nur die Erfüllung belangloserer Forderungen vor und versagt den Ländern vor allem die angestrebte Verbesserung der Finanzverfassung und des Finanzausgleiches.

Regionalisierung Europas

Die Wende aber in' dieser Entwicklung geht geradezu von jenem politischen Kraftfeld aus, das nach herkömmlicher Meinung den Staat

von außen her zum Zentralismus drängte: der europäischen Integration. Das ferndiktierte, von „oben herab“ entwickelte Europakonzept, das vielfach an die Stelle des Humanen, Gewachsenen und überblickbar Wirklichen das Ferne, Anonyme, Zentrale stellen wollte, war für sich nicht zu verwirklichen. Europa erscheint genetisch und sozialpsychologisch betrachtet als ein Phänomen der Bewußtmachung und des natürlichen Wachstums — und wachsen kann es nur „von unten“, von seiner demokratischen Basis her. Es war der Europarat, der von Anfang an der „Grass-roots“-Integration größte Bedeutung beimaß. Ohne die demokratische Kraft der Gesamtheit europäischer Gemeinden und autonomer Regionen mit ihrer Nähe zum Menschen kann es keine europäische Einigung geben. Die Gründung der Europäischen Gemeindekonferenz (1957) institutionalisierte diese Idee. Von ihr gehen auch die langen und gründlichen Arbeiten aus, die zur Regionalisierung Europas geleistet wurden. Ausdrücklich wurden die Ziele und Probleme der europäischen Regionalisierung formuliert, nämlich wirtschaftlich: Schaffung eines ökonomischen Gleichgewichtes, politisch: Demokratisierung, kulturell: Erhaltung der Vielfalt, europapolitisch: Transnationalismus. Gerade gegenwärtig, da die Europäischen Gemeinschaften (EWG, EGKS, Euratom) in eine neue Entwicklungsphase eingetreten sind, hat der Europarat dieses Regionalisierungs-konzept neu aktiviert. Scharf wurde es motiviert, indem dem „Europa der Staaten oder Nationen“ mit seiner zentralisierenden Tendenz und der einer Einigung widerstrebenden „jakobinischen und napoleonischen Tradition des Staates“ die Zusammenarbeit der .yubnationalen Regionen, „der ersten Opfer des jakobinischen Staates“, gegenübergestellt wurde. Die Straßburger Arbeiten an der Grundlegung europäischer Re-gionalisierungspolitik werden in dreifacher Richtung geführt:

• durch Analysierung der heute schon in den einzelnen Europaratsstaaten bestehenden regionalen Strukturen in administrativer Hinsicht, wobei als Region „die größte territoriale Einheit in jedem Staat unmittelbar unter der zentralen Regierung“, wie eben ein österreichisches Bundesland, definiert wurde;

• durch breite Förderung der Regionalplanung als der in unserem Massenzeitalter unerläßlichen rationalen Komponente moderner Politik;

• durch ebenso breite Förderung der transnationalen Zusammenarbeit der Grenzregionen.

In allen drei Gruppen steht die demokratische Beteiligung der betroffenen Bevölkerung an den Planungsmaßnahmen im Mittelpunkt.

An zahlreichen Stellen der Europaratsstaaten, von Skandinavien bis zu den Pyrenäen, von Julisch-Venetien bis Nordwesteuropa, ist die Zusam-

menarbeit subnationaler Regionen über Staatsgrenzen hinweg in vollem Gang. Die Kooperation bezieht sich auf alle Felder modernen menschlichen Lebens: Wirtschaft, Verkehr, Gesundheit, Umweltschutz, Siedlungswesen, Landwirtschaft, Energiewesen, Kultur, Fremdenverkehr. Ein Mitte 1972 veranstaltetes großes Europäisches Symposion der Grenzregionen hat die Probleme der transnationalen Kooperation kommunaler und regionaler Gebietskörperschaften in umfassender Weise behandelt. Die Konsultivversammlung des Europarates schlug darauf aufbauend am 24. Jänner 1973 vor, im Bereich aller Grenzregionen transnationale „Regionalkommissionen“ einzusetzen, um das „Gespräch über die Grenzen hinweg zu institutionalisieren“.

„Arbeitsgemeinschaft Alpenländer“

Dieses europäische Entwicklungskonzept ist gerode für Österreich

von größter Bedeutung. Steiermark und Kärnten arbeiten mit der italienischen Region Friaul-Julisch Vene-tien und den jugoslawischen Regionen Kroatien und Slowenien zusammen, Vorarlberg kooperiert im Bodenseeraum mit der Schweiz, Baden-Württemberg und Bayern; Salzburg mit Bayern. Vor allem aber ist hier die Aktivität zu nennen, die von Tirol aus zur Schaffung einer Europäischen Alpenregion entwickelt wird. Angesichts der Mittelstellung Tirols im Alpenraum ist diese Aktivität für den neutralen Alpenstaat Österreich und seine Verankerung im Westen besonders wichtig. Zahlreiche internationale wissenschaftliche und politische Aktionen sind von Innsbruck ausgegangen. Am 12. und 13. Oktober 1972 traten auf Einladung des Tiroler Landeshauptmannes Wallnöfer in Mosern bei Seefeld der Bayerische Ministerpräsident, die Landeshauptmänner von Südtirol, Salzburg, Vorarlberg, der Regierungspräsident von Graubünden und der Präsident der Lombardei zu einer Konferenz zusammen, bei der eine „Arbeitsgemeinschaft Alpenländer“ gegründet wurde, der inzwischen auch die italienische Provinz Trentino beigetreten ist. Das Amt der Tiroler Landesregierung wurde zur vorläufigen Geschäftsführung bestimmt. Dazu wurde auf Vereinsebene in Innsbruck eine „Euro-

päische Arbeitsgemeinschaft Alpenregion“ konstituiert, die noch weiter ausgreift und auch mit den französischen und jugoslawischen Alpengebieten, wie mit den italienischen Regionen Aosta und Piemont Kontakt aufgenommen hat.

Es versteht sich von selbst, daß dieser — wie es scheint — unaufhaltsamen europapolitischen Entwicklung altertümlicher Zentralismus grob im Wege steht. Ich habe daher schon wiederholt gefordert, den österreichischen Bundesländern durch eine Änderung der Bundesverfassung auch rechtsförmlich die innerstaatliche Komplementärfunktion zur transnationalen Verschmelzung der subnationalen Regionen einzuräumen. Die Forderung, den österreichischen Bundesländern in ihrem sachlichen Zuständigkeitsbereich nach Art der Schweizer Kantone und der deutschen Länder, die (selbstverständlich mit dem Bund

zu koordinierende) Pflege zwischenstaatlicher Beziehungen samt dem Abschluß von Vereinbarungen zu überlassen, ist ja im gegenwärtig maßgebenden Forderungsprogramm der Bundesländer nur deshalb nicht enthalten, weil wieder einmal als einziges Bundesland das Binnenland Wien dagegen Einspruch erhoben hat. Darin zeigt sich nicht nur bornierter Zentralismus, sondern auch das Festhalten an einem überholten Konzept autokratischer Außenpolitik, von der das Volk ausgeschlossen sein soll.

Föderalismus und europäischer Regionalismus gehören eng zusammen. Der zentralisierte Nationalstaat alten Stils mit seiner weithin inhaltslosen, ja absurden Politik, ist in voller Auflösung. Von außen wirkt auf ihn die technokratische europäische Integration, von innen das pluralistische Gesellschaftsgefüge. Um so klarer treten nun die alten Landschaften wieder hervor, um so bedeutungsvoller wird die Aufgabe der zu Bundesstaaten zusammengeschlossenen Länder. Denn sie bringen in die neue Zeit ein, was auch morgen benötigt wird: Demokratie, Rechtsstaat, Selbstbestimmung und die heimatliche Nähe zum Menschen — zu jenem Menschen, der in den Massenstaaten mit ihren zentralisierten und börokratischen Apparaten in tiefe Verfremdung gefallen ist.

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