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Digital In Arbeit

Eine Freiheit, die er nicht bewältigt hat

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Der folgende Bericht schildert die Erfahrungen, die die A utorin mit einem später entlassenen Strafgefangenen gemacht hat. Mit 19 Jahren zum ersten Mal straffällig geworden, hatte er nach einer weiteren Straftat mehr als sechs Jahre Zuchthaus in einem amerikanischen Gefängnis im Staate Michigan zu verbüßen. In dieser Zeit absolvierte er Vorlesungen auf dem Gebiet Sozialarbeit, nahm an Gruppentherapie teil und arbeitete in der Gefängnisdruckerei.

Er war mir nicht auf den ersten Blick sympathisch. Aber im Laufe der Zeit lernte ich den schlacksigen, unbeholfenen jungen Mann als einen gescheiten, sensiblen Menschen kennen.

Unsere Kommunikation kam sehr langsam in Gang. Wir sprachen zunächst vorwiegend über die Welt des Gefängnisses, in der niemand niemandem traut, in der man es sich nicht leisten kann, Gefühle zu zeigen, vor allem nicht Schwäche, Weichheit oder Schmerz, weil das sofort gegen einen ausgenützt wird.

Um in dieser Welt hartgesottener Männer zu überleben, muß man sich abkapseln, sagte er, und allmählich verliert man die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und mitzuteilen.

Ganz allmählich begann er sich zu öffnen, sich selbst gegenüber und auch zu mir ehrlicher zu sein, Empfindungen zu sich dringen zu lassen, sich in meiner Gegenwart als Mensch und später als Freund zu fühlen. Das allerdings brachte neue Probleme für Michael.

Es kostete ihn viel, jede Woche einmal im Besuchszimmer Mensch zu sein und dann wieder in seine Schale zurückzukriechen. Die Gespaltenheit und die begrenzten Möglichkeiten seiner Existenz wurden ihm schmerzlich bewußt.

Je näher der Zeitpunkt der Entlassung kam, desto nervöser wurde er. Würde er den Anforderungen in der Außenwelt gewachsen sein, nach so langer Zeit der Entmündigung, in der es ihm nicht möglich war, Entscheidungen zu treffen, irgendeine Verantwortung für sich selbst zu übernehmen!

Trotz aller Zweifel war er der Meinung, seine Schuld der Gesellschaft gegenüber beglichen zu haben. Er sah dem neuen Lebensabschnitt als einer letzten Chance entgegen, noch einmal neu zu beginnen. Er war nämlich dreißig und das Leben lag noch vor ihm.

Der Tag, an dem wir Michael vom Gefängnis abholten, machte mir mehr denn je bewußt, in welcher Welt er gelebt hatte und wie schwer die Umstellung sein würde. Er war überwältigt von. der Weite des Himmels und des Sees.

Nach dem Lärm und der Beleuchtung im Gefängnis, auch nachts, setzten ihm Dunkelheit und Stille zu. Er mußte sich erst langsam an die Gegenwart von

Menschen gewöhnen, daran, daß er selbst für seinen Unterhalt, seine Zukunft verantwortlich war.

Im Gegensatz zu vielen entlassenen Gefangenen waren seine Chancen gut. Er hatte ein festes Ziel: Sein Sozialarbeiterexamen abzuschließen. Er hatte Freunde, die an ihn glaubten und ihm unter die Arme greifen würden. Vor allem: Er hatte Vertrauen zu sich selbst gefunden.

Zunächst ging alles gut. Sein Praktikum in einem kirchlichen Sozialamt brachte ihn in Kontakt mit warmen, offenherzigen Menschen. Es war ihm möglich, offen über seine Vorgeschichte zu sprächen und er erntete damit den Respekt seiner Professoren und Kollegen.

Er traf eine Frau, die ihn lieben lernte, und er sie. Die finanziellen Probleme des jungen Paares waren belastend, aber nicht überwältigend. Schließlich fand er sogar eine Stelle als Sozialarbeiter in einem Gruppenheim für geistig Behinderte. Sein Leben begann sich zu normalisieren. Das erste Jahr in Freiheit war fast um.

Dann fiel eines Tages wie aus heiterem Himmel seine Welt auseinander. Eine Kurzschlußhandlung erwies sich als Fehltritt, den er sich in seiner Lage nicht leisten konnte.

Jemand anderem hätte es seinen Job gekostet, für Michael stand Zuchthaus auf dem Spiel. Wir waren fassungslos: Warum konnte er die Konsequenzen nicht absehen! Wieso war er nicht um Hilfe gekommen?, fragten wir. Er hatte gedacht, er hätte die Sache unter Kontrolle, sagte er.

Was ihm letzten Endes fehlte, war die objektive Selbsteinschätzung, die Fähigkeit, Entscheidungen mit Einbezug der späteren Folgen zu treffen.

Und wir alle, die wir so große Stücke auf ihn gesetzt hatten, hatten wir es ihm mit unseren Erwartungen vielleicht zu schwer gemacht, sich seine eigene Unsicherheit, Schwäche einzugestehen, bewußt zu machen?

Ich bin traurig und verwirrt, frage mich, was schief gegangen ist, ob ich naiv und unrealistisch gewesen bin. Ich glaube immer noch, daß entlassene Gefangene produktive Bürger werden könnten. Aber ich bin zu dem Schluß gekommen, daß langjährige Einkerkerung der Art, wie sie zurzeit besteht, solche schädigenden Folgen auf den Menschen hat, daß er den Anforderungen der Außenwelt selbst bei den besten Voraussetzungen nur sehr schlecht gewachsen ist.

Die Erfahrung mit Michael, der meiner Meinung nach kein von Grund auf unverbesserlicher Krimineller ist, bringt mich zu der Überzeugung, daß es nötig ist, die Natur der Gefängnisse zu ändern, wollen wir verhindern, daß ehemalige Gefangene dorthin zurückkehren.

Solange Gefängnisse Warenhäuser für Kriminelle sind und nicht Institutionen, die rehabilitieren, solange Gefangene total entmündigt sind, kann man nicht erwarten, daß verantwortungsvolle Menschen aus diesen menschenunwürdigen Institutionen hervorgehen.

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