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Es bleibt zu vieles offen

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Auf das jüngste Vatikan-Dokument zur Liebeserziehung hat die FURCHE in Nr. 50/1983 kurz Bezug genommen. Wir bringen heute eine'genauere Bewertung von einem kirchlichen Autor.

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Auf das jüngste Vatikan-Dokument zur Liebeserziehung hat die FURCHE in Nr. 50/1983 kurz Bezug genommen. Wir bringen heute eine'genauere Bewertung von einem kirchlichen Autor.

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„In den Erklärungen des Lehramtes zur geschlechtlichen Erziehung zeigt sich ein Fortschritt, der sowohl den berechtigten Erfordernissen der Geschichte als auch der Treue zur Uberlieferung entspricht." So formuliert das Dokument mit dem Titel „Orientierung zur Erziehung in der menschlichen Liebe", das die Vatikanische Kongregation für das katholische Bildungswesen herausgegeben hat. Das Dokument soll eine Weiterführung und Konkretisierung von Aussagen in Dokumenten des 2. Vatikanischen Konzils und im Apostolischen Schreiben „Familiaris consortio" sein, die häufig zitiert werden. Der oben genannte Fortschritt ist dabei deutlich erkennbar.

So wird betont, daß „in den Lehräußerungen von Papst Johannes Paul II. die positive Betrachtung von Werten, die es zu entdecken und zu schätzen gilt, Vorrang hat vor einer Norm, die nicht verletzt werden darf. Dennoch deutet und formuliert die Norm die Werte, welche der Mensch erstreben muß" (Nr. 19). Das Dokument wendet sich auch bewußt gegen eine Abwertung der Geschlechtlichkeit, „als ob sie natürlicherweise des Menschen unwürdig sei" (Nr. 28).

In den grundsätzlichen Aussagen zur christlichen Auffassung von derGeschlechtlichkeit und zu Wesen und Ziel der Geschlechtserziehung wird daher sehr positiv von der Sexualität gesprochen. Der Leib erschließt den Menschen, er ist Ausdruck der Person, Zeugnis der Schöpfung als eines ursprünglichen Geschenks. Insoweit der Leib geschlechtsbestimmt ist, drückt er die Berufung des Menschen zur Gegenseitigkeit aus, also zur Liebe und zum gegenseitigen Sich-Schenken, und erinnert an die Berufung zur Fruchtbarkeit. Die Geschlechtsunterscheidung bedingt zwar Unterschiedlichkeit, dies aber in gleicher Natur und Würde (Nr. 22 bis 26, 30).

Ausgerichtet auf Vereinigung und Fruchtbarkeit haben Mann und Frau als Ehepartner an der schöpferischen Liebe Gottes teil; sie haben Lebensgemeinschaft mit Gott durch den anderen. Ja, die Geschlechtlichkeit ist eine Berufung, jene Liebe zu üben, die der Geist Gottes in den Herzen der Erlösten ausgießt. Jesus Christus hat diese Berufung durch das Sakrament der Ehe erhöht.

Ziel der Geschlechtserziehung ist nicht nur Vermittlung von Kenntnissen, sondern Hinführung zur affektiven Reife, zur Entfaltung des Gefühlslebens, der Bereitschaft zur Hingabe und Integration der Geschlechtlichkeit in die Gesamtpersönlichkeit. Der Mensch soll zu einer Kultur der Geschlechtlichkeit geführt werden (16). Dies führt schließlich dazu, daß die Komponenten der Geschlechtlichkeit sich integrieren: Sexualität, Erotik, Liebe und Gutsein. Auch wenn das vollständige Ergebnis nicht immer erreicht wird, gibt es doch viel mehr Menschen, als man glaubt, die sich dem ersehnten Ziel nähern (42).

Eine Geschlechtserziehung nach dem christlichen Menschenbild kann sich nur auf der Grundlage des Glaubens und in gläubiger Umwelt verwirklichen (43).Im Dokument werden dann die wesentlichen überlieferten sittlichen Grundhaltungen aufgezeigt und betont: Zucht und Maß, Achtung vor sich selbst und den anderen, Aufgeschlossenheit für den Nächsten, Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit vor der Ehe. Einige dieser Grundhaltungen werden näher erläutert. So wird die Keuschheit als „Einfügung der Geschlechtlichkeit in die Entfaltung der Person" definiert (18).

Da die Berufung zur Liebe auf zwei Wegen verwirklicht werden kann - in der Ehe und in der Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen -, nimmt die Berufung zur Ehelosigkeit breiten Raum ein. Sie wird als besonders vollkommene Form der Hingabe bezeichnet, die angemessener die Hingabe Jesu Christi an den Vater um der Brüder willen ausdrückt.

In der Verantwortlichkeit bei der Geschlechtserziehung wird der Vorrang der Eltern besonders betont, aber auch die kirchlichen Gemeinden, die Schule, die Katechese, die sozialen Kommunikationsmittel und die bürgerliche Gesellschaft werden auf ihre Mitverantwortung hingewiesen. Die Eltern sind zuerst zu einer einfühlsamen Geschlechtserziehung berufen. Wichtigste Voraussetzung dafür sind eigene Ausgeglichenheit und Vorbildwirkung des eigenen Verhaltens (49).

Die Schule soll die Bemühungen der Eltern fördern und vervollständigen, muß aber mit ihnen zusammenarbeiten und ihre Wertvorstellungen beachten (66). Damit ist wohl nach „Familiaris consortio" nochmals der Schule eine ergänzende Kompetenz zugewiesen. Jenen Kritikern, die die schulische Sexualerziehung prinzipiell ablehnen, wird also nicht recht gegeben. Aber auch die christlichen Gemeinden tragen, besonders für eine voreheliche Katechese, Mitverantwortung (55)," und der Jugendgruppe kommt besondere Bedeutung zu (77).

In einem letzten Abschnitt werden einige Einzelprobleme angeschnitten: Intimbeziehungen dürften sich nur in der Ehe entwickeln. „Gewisse geschlechtliche Verhaltensweisen, welche an und für sich zur vollen geschlechtlichen Beziehung führen, ohne daß es jedoch dazu kommt"(Anm.: Petting ?) seien sittliche Unordnung. Ausführlich wird auf Masturbation und Homosexualität eingegangen. Sie stellen objektiv sittliche Verfehlungen dar, müssen jedoch entdramatisiert werden. Im Einzelfall muß die Bewertung der subjektiven Verantwortlichkeit mit Vorsicht und pädagogischem Feingefühl behandelt werden (98 bis 105). ■ Wer sich nun anschickt, diese im allgemeinen sehr erfreulichen Aussagen des Dokumentes in die Erziehungspraxis umzusetzen, muß feststellen, daß viele wichtige Fragen, wie sie sich gerade heute bei der Erziehung der Jugend stellen, gar nicht angeschnitten werden. Geschlechtlichkeit wird fast nur als geschlechtliche Vereinigung verstanden, Begriffe wie Zärtlichkeit, Erotik, Sinnlichkeit, Lust, Treue haben kaum Bedeutung.

Unter der vorehelichen Katechese wird meist nur die direkte Vorbereitung auf die Ehe verstanden. Dabei geht es wieder vor allem um die Enthaltung von der sexuellen Vereinigung. Erziehung zur Partnerschaft als Begleitung der Jugendfreundschaft und Jugendliebe, die Entfaltung und Förderung der emotionalen und geistigen Beziehung, also die „Erziehung in der menschlichen Liebe", werden vernachlässigt.

Viele sittliche Werthaltungen werden zwar gefordert, aber nicht näher erklärt. So wird zum Beispiel die Schamhaftigkeit als Erziehungsziel genannt, aber nicht definiert. Die anfangs positive Wertung der Geschlechtlichkeit wird nicht durchgehalten, und ihre Geringschätzung schlägt wieder durch. Dies fällt besonders bei der Uberbewertung der Jungfräulichkeit auf.

Den Lehrern und Erziehern wird, was ihre Eignung betrifft, große Skepsis entgegengebracht, und an ihre Ausbildung werden hohe Anforderungen gestellt. Dagegen scheinen die Eltern von vornherein voll geeignet und befähigt zu sein. Eine entsprechende Ausbildung für sie wird nicht gefordert. Die Umwelt wird mehrfach und ausschließlich in einem Maße als Anlaß zu Sünde und Laster, außereheliche geschlechtliche Betätigung ausschließlich als Vergnügungssucht bezeichnet, wie es der,wahren Situation nicht entspricht.

All das legt die Vermutung nahe, daß die Autoren dieses Dokumentes ihre Erfahrungen vor allem aus der Erziehungsarbeit in Knabenseminaren beziehen und die inhaltliche Zielsetzung des Dokuments auch dort ihren Schwerpunkt hat. Vieles deutet darauf hin: Die besondere Betonung der Erziehung zur Jungfräulichkeit, die hohen Anforderungen an die Erzieher, Masturbation und Homosexualität als die wichtigsten Einzelprobleme, die besondere Betonung des Einzelgesprächs.

Eltern, Seelsorger und Erzieher, die mit den Liebesbeziehungen und Freundschaften ihrer Kinder und von Jugendlichen überhaupt konfrontiert sind, finden in diesem Dokument zu wenig Antworten auf ihre brennenden Probleme. Ihre Erwartungen werden nicht erfüllt. Durch diese Einschränkung wird das Dokument seinem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht, es läßt viele Fragen unbeachtet.

Weiters ist fraglich, wie es entstanden ist (wurden die Ortskirchen zur Stellungnahme eingeladen?) und welche Kompetenz als lehramtliche Äußerung es sohin beanspruchen kann. Besonders beachtenswert ist der Schlußsatz, in welchem die Bischofskonferenzen eingeladen werden, das Zusammenwirken zwischen Eltern, christlichen Gemeinden und Erziehern im Hinblick auf ein gemeinsames Handeln in der Geschlechtserziehung zu fördern.

Der Verfasser ist Vorsitzender des Katholischen Familienwerks Österreichs.

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