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Extrapolation als Selbstzweck?

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Ist „Vergewaltigt am Abend“ von Winfried Bruckner ein Stück gegen den Terror? Ist es überhaupt eines über den Terror? Oder eines über mögliche Reaktionen der Gesellschaft auf den Terror? Gar eines über die Gewalt schlechthin? Oder etwa ein Plädoyer, arme Gewalttäter mit trister Kindheit zu verstehen? Ist es realistisch gemeint? Symbolhaft? Als Parabel? Oder ist es am Ende das chaotische Resultat einer berserkerhaften Anstrengung, dies alles auf hundert Seiten unterzubringen und auch noch plakativ aufzumascherln? AU das kann man in Bruckners Bühnenerstling sehen. Und einiges davon ist wirklich drin. Vor allem aber: Eine große, vorläufig erst ansatzweise verwirklichte Idee.

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Ist „Vergewaltigt am Abend“ von Winfried Bruckner ein Stück gegen den Terror? Ist es überhaupt eines über den Terror? Oder eines über mögliche Reaktionen der Gesellschaft auf den Terror? Gar eines über die Gewalt schlechthin? Oder etwa ein Plädoyer, arme Gewalttäter mit trister Kindheit zu verstehen? Ist es realistisch gemeint? Symbolhaft? Als Parabel? Oder ist es am Ende das chaotische Resultat einer berserkerhaften Anstrengung, dies alles auf hundert Seiten unterzubringen und auch noch plakativ aufzumascherln? AU das kann man in Bruckners Bühnenerstling sehen. Und einiges davon ist wirklich drin. Vor allem aber: Eine große, vorläufig erst ansatzweise verwirklichte Idee.

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Der Theaterkritiker soll das Stück beurteilen, das er gesehen hat, und nicht dasjenige, das er an Stelle des Autors selbst geschrieben hätte. Aber im gegenständlichen Fall ist der Wunsch bei mir zu übermächtig, um ihn ganz zurückzudrängen. Hier stehe ich, pardon, sitze vor der Schreibmaschine, ich kann nicht anders - die guten Ratschläge müssen heraus. Denn ich habe schon lang kein Stück mehr gelesen, dessen Autor so - meiner Meinung - betriebsblind, auf einer Ausgangsidee beharrend, an faszinierenden Möglichkeiten seines Stoffes - die ich sehe oder zu sehen glaube! - vorbeiging.

Um dieser Möglichkeiten willen darf man dieses Kind nicht mit dem Bad ausgießen. Auch wenn das Badewasser so blutgerötet ist, daß man den Zustand des armen Wesens auf den ersten Blick gar nicht leicht erkennen kann. Viel an diesem Stück riecht nach Erfolgskalkül. Kein makabrer Effekt, den der Autor ausgelassen hätte. Aber dahinter tritt doch das Engagement deutlich zutage, und zwar ein querliegendes, ein ganz und gar nicht der herrschenden öffentlichen Meinung konformes, ein radikal und ohne Rücksicht auf Verluste humanistisches.

Zwei Männer, der eine unselbständig und geistig nicht gerade hervorragend ausgestattet, der andere aber auch nicht ganz der härte Bursche, für den er sich ausgibt, besetzen ein Fernsehstudio. Sie geben sich für die Täter eines Banküberfalles mit sieben Toten aus, der sich unmittelbar vorher ereignet und von dem sie durch das Autora-

dio erfahren haben, und verlangen via Büdschirm fünf Millionen und ein Flugzeug. Zu spät stellt sich heraus, daß sie klassische Ersttäter sind, mit denen leicht fertig zu werden wäre. Denn tausende Menschen rücken an, um Selbstjustiz zu üben, verstopfen mit ihren Autos die Straßen, stürmen Studios, metzeln Unbeteiligte, darunter Polizisten.und finden ohnehin, die von den Gangstern in Schach gehaltenen Fernsehleute - die jeder beobachten kann, da die Kameras eingeschaltet bleiben - würden sich viel zu wenig heldisch benehmen. i

Das wäre eine ausgezeichnete, tragfähige Idee für ein sehr unbequemes Stück über die latente Gewaltbereitschaft, Gewaltfaszination in unserer Gesellschaft. Für eine sicher unpopuläre, aber wichtige Warnung vor der Uberreaktion auf den Terror, die, ohne das Problem des Terrors damit im geringsten zu verniedlichen, gesehen werden muß.

Dazu kommt noch eine massive, aber ebenfalls wichtige und nur zu richtige medienkritische Komponente. Denn das TV-Studio ist nicht nur Schauplatz, sondern trägt - durch Fernsehspiele mit einschlägigem Inhalt - auch zur Verschärfung des Gewaltproblems bei, und am Ende bleibt überhaupt offen, ob und wie weit es sich um wirkliches Geschehen oder um ein Fernsehspiel gehandelt hat.

Nun ist es aber leider mitunter sehr schwer, sich von der am Ausgangspunkt einer solchen Arbeit stehenden Idee zu trennen. Zu erkennen, daß sich eine Fabel verselbständigt hat und Modifikationen verlangt. Am Aus-

gangspunkt stand für Bruckner offensichtlich die an „Rollerball“ und ähnlichen Filmen orientierte Idee, ein Theaterstück in der Horrorzukunft einer total der Gewalt verfallenen Gesellschaft mit Bürgerkrieg aller gegen alle und tödlichen Gladiatorenspielen, Selbstjustiz und so fort anzusiedeln.

Daher ist der eine der beiden Räuber frustriert, weil zum Gladiator erzogen, aber keiner geworden, das brennende Studio ist nur einer von vielen Tatorten des Terrors, und auf daß sich die Spirale munter weiterdrehe, drücken »schon die Kindergartentanten den lieben Kleinen echte Gewehre in die Hand, damit sie auf die Bösewichte ballern können.

Die Horrorzukünft, in der das Stück spielt, hebt die Wirkung der Fabel, die uns den Blick für heutige Tendenzen schärfen könnte und sollte, leider weitgehend auf. Kult die angestrebte pädagogische Wirkung. Der (unblutig verlaufende) Terrorakt im Studio und die (bluttriefende) Reaktion darauf

werden in ein bereits stabilisiertes Gewaltmilieu eingebaut und nicht als Station auf dem Weg dorthin gezeigt, was die Fabel an sich hervorragend hätte leisten können. Das Geschehen wird auf diese Weise in eine Zukunft verlegt, in der wir unsere Gegenwart nicht mehr erkennen. Bruckner extrapoliert die Gewalttendenzen unserer Gesellschaft so hemmungslos wie einst Malthus das Bevölkerungswachstum seiner Zeit, statt uns zu zeigen, wie eine solche exponentielle

Entwicklung zu verhindern wäre. Das läuft im Effekt darauf hinaus, daß die Story um so harmloser wird, je mehr Blut fließt. Denn der Geschäftserfolg der utopischen Horrorfilme in Verbindung mit ihrer totalen Wirkungslosigkeit (zumindest im positiven Sinn) beweist doch, daß niemand Angst hat, auf diese Weise die Menschen zum Denken zu bringen (was auf dem Weg des geringsten Widerstandes und des größten kaufmännischen . Gewinnes noch niemals möglich war).

Und auch die Medienkritik verpufft, wenn in der Darstellung einer total der Gewalt verfallenen Gesellschaft jede Dialektik zwischen Ursache und Wirkung, einem Brutal-Fernsehspiel und dem, was es auslösen kann, aufgehoben wird.

Eine Inszenierung ohne Kürzungen wäre zur Katastrophe für den Autor geworden. Regisseur Peter Hey strich etwa ein Drittel des Textes. Noch ein paar weitere Striche, gar nicht so viele, und die Horrorzukunft wäre ganz aus dem Spiel. Freüich wären für eine solche Fassung doch einige Adaptionen des Autors nötig. Aber auf diese Weise könnte aus einer entschärften eine echte Provokation werden. Ein Ärgernis für alle, die den Terrorismus als Alibi für archaische „rechtspolitische“ Ideen benützen. Die dagegen sind, daß nach der Kindheit eines Täters gefragt wird. Vor allem aber steckt in diesem Stück, wie die Puppe in der Puppe, und ganz leicht, nämlich nur durch Striche und vielleicht ein paar neue Sätze herauszuholen, eine schockierende Warnung vor der Brutalität des Kollektivs, die mit der des einzelnen korrespondiert, vor dem kollektiven Gegenstück des Terrors, der öffentlichen Kopf-ab-Meinung. Der zunehmenden Intoleranz, Gewaltfaszination, Brutalisierung der Welt, in der wir leben.

Und an einem solchen Stück, das Bruckner vom Ballast der Utopie befreien sollte, würde mich nicht im geringsten stören, daß es die Nerven strapaziert, und auch nicht, daß es nicht gerade die ortsübliche, eher verklemmte, uneingestandene Aggres-

sionsspielart trifft. Und schon gar nicht, daß es in vielen Augen äußerst inopportun wäre. Denn es geht um ein weltweites Problem. So, wie das Stück im Volkstheater gespielt wird, halte ich ihm in erster Linie zugute, daß es die Publikumsmeinungen spaltet (was meist positiv ist), und daß es, wenn, man Einwände begründen will, zu differenzierten Überlegungen zwingt. Somit also zu einer Überprüfung der eigenen Haltung zu den vom Autor behandelten Problemen.

Peter Hey hat viele Peinlichkeiten eliminiert. Dämpft die grellen Effekte dort, wo sie dem Anliegen Bruckners nicht dienen. Unter den Darstellern ragen Renate Olarova und Alfred Rupprecht hervor. Renate Olarova spielt eine Gastarbeiterin, eine Studioraumpflegerin - die positivste Figur des Stücks. Und die schweigsamste. Folgerichtig hat Bruckner dieser Figur eine Szene stummer, oder vielmehr nonverbaler Qual zugedacht, eine Flucht vor dem jüngeren der Gangster kreuz und quer durch das Studio, wobei sich Schreckenslaute zu einer Schreiarie steigern - und zur quälendsten, intensivsten schauspielerischen Leistung, die ich seit langem im Volkstheater gesehen habe. Alfred Rupprecht liefert eine mit sehr viel Hirn durchgearbeitete Studie der hinter Aggressivität verborgenen Unsicherheit, Angst, zuletzt geradezu Kindlichkeit ab. Bernhard Hall als der dominierende Gangster schreit und schimpft, wie es der Text befiehlt, und wird am glaubwürdigsten, sobald die Maske des harten Mannes rutscht. Helmi Mareich erfüllt eine bei der Lektüre eher Bedenken auslösende Stelle mit Leben (aber auch hier hüft ein kluger Strich des Regisseurs!). Der Rest des Ensembles (Albert Rolant, Friedrich Haupt, Louis Ries und Anton Du-schek) entledigt sich seiner Aufgaben zum Großteü mit dem ebenso realistischen wie angesichts der massiven Gangster wohltuend unterkühlten Studioton. Fernsehstudio (Herwig Li-bowitzky) und Kostüme(MariaPej/erU stimmen.

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