6841488-1975_46_15.jpg
Digital In Arbeit

„Größe ist, was wir nicht sind“

19451960198020002020

Apropos Kassner: Er ist es gewesen, für den sich Hofmannsthal ein halbes Leben lang einsetzte, um ihm den Nobel-Preis-für Literatur zu verschaffen. Vergebens, wie man weiß. Er selbst hätte ihn höchstwahrscheinlich durch Empfehlung von Kollegen aus Frankreich, Italien, Skandinavien und England erhalten. Aber H. v. H. verzichtete, ergriff jedenfalls keinerlei Initiative. Ist den Schriftstellern und Dichtern in aller Welt, den geistig Schaffenden und Kulturträgern schon aufgefallen, wie konsequent die schwedische Akademie; die österreichische Literatur und ihre Repräsentanten vernachlässigt, geradezu , ignoriert hat? (Wobei wir die deutschsprachigen Prager Autoren hier wohl zu Recht einbeziehen.) Weder Rilke rtbch Werfel, weder Schnitzler, Stefan Zweig oder Broch, weder Robert Musil, Joseph Roth noch ödön von Horväth oder Franz Theodor Csokor wurden je genannt. — Von den Jüngstverstorbenen seien nur Gütersloh und Doderer erwähnt, deren Werk sich mit manchem der letzten Nobelpreisträger sehr wohl messen kann. — TrakI ist zu jung gestorben, und Kafka war zu seinen Lebzeiten zu wenig bekannt. Aber die übrigen hier Genannten? Fast fällt es schwer, an „Ubersehen“ und „Zufall“ zu glauben. Denn was wäre nicht nur die deutschsprachige, sondern auch die europäische Literatur dieser ersten Jahrhunderthälfte ohne die Österreicher? „Größe ist, was wir nicht sind?“ So hatte es der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt nicht gemeint... Helmut A. Fiechtner

19451960198020002020

Apropos Kassner: Er ist es gewesen, für den sich Hofmannsthal ein halbes Leben lang einsetzte, um ihm den Nobel-Preis-für Literatur zu verschaffen. Vergebens, wie man weiß. Er selbst hätte ihn höchstwahrscheinlich durch Empfehlung von Kollegen aus Frankreich, Italien, Skandinavien und England erhalten. Aber H. v. H. verzichtete, ergriff jedenfalls keinerlei Initiative. Ist den Schriftstellern und Dichtern in aller Welt, den geistig Schaffenden und Kulturträgern schon aufgefallen, wie konsequent die schwedische Akademie; die österreichische Literatur und ihre Repräsentanten vernachlässigt, geradezu , ignoriert hat? (Wobei wir die deutschsprachigen Prager Autoren hier wohl zu Recht einbeziehen.) Weder Rilke rtbch Werfel, weder Schnitzler, Stefan Zweig oder Broch, weder Robert Musil, Joseph Roth noch ödön von Horväth oder Franz Theodor Csokor wurden je genannt. — Von den Jüngstverstorbenen seien nur Gütersloh und Doderer erwähnt, deren Werk sich mit manchem der letzten Nobelpreisträger sehr wohl messen kann. — TrakI ist zu jung gestorben, und Kafka war zu seinen Lebzeiten zu wenig bekannt. Aber die übrigen hier Genannten? Fast fällt es schwer, an „Ubersehen“ und „Zufall“ zu glauben. Denn was wäre nicht nur die deutschsprachige, sondern auch die europäische Literatur dieser ersten Jahrhunderthälfte ohne die Österreicher? „Größe ist, was wir nicht sind?“ So hatte es der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt nicht gemeint... Helmut A. Fiechtner

Werbung
Werbung
Werbung

Rudolf Kassner, 1873 geboren und 1959 gestorben, hat sechsundachtzig Jahre gelebt, ohne daß die „breite Öffentlichkeit“ etwas über ihn erfahren hätte. Und auch der Eingeweihte weiß kaum mehr als die Titel seiner wichtigsten Werke, die Tatsache seiner gleich profunden wie universalen Bildung, und daß er seine Welterfahrung sich ertrotzt hat gegen einen von der Poliomyelitis gelähmten Körper.

Allein: schon diese rohen Fakten sollten uns zumindest nach seinem Tode veranlaßt haben, nicht nur den Verlust eines großen Geistes zu bedenken, sondern darüber hinaus den Verlust von Geist überhaupt. Man muß von Eitelkeit gebläht sein, um angesichts eines Lebens wie eben das Rudolf Kassners sich nicht der eigenen Zwerglichkeit bewußt zu werden: trotz allem Kulturrummel, mit dem wir uns, wie mit Weckaminen, über unsere Agonie hinwegtäuschen. Wir, die wir Nachfahren nur mehr im biologischen Sinn des Wortes sind, wir sollten Kassners Leben nicht nur als ein sozusagen privates Ereignis empfinden, sondern als eine Erinnerung daran, daß unsere Welt rapide verarmt; denn mit dem, was Kassner als ein einzelner war, bezeugt er die Größe und Fülle einer unwiderruflich vergangenen Epoche europäischen Geistes. Und so uns ein Rest von intellektueller Redlichkeit verblieben ist, sollten wir auch das Leben dieses Großen nicht anders verstehen denn als die Frage an uns, warum denn wir so winzig seien.

Oder sind wir's denn nicht? Können wir vollen Ernstes riskieren, uns zu messen mit der Generation der Valery und Schönberg, der Wittgenstein und Joyce, der Picasso und Freud, der Einstein und Loos, der Kafka und Maillol, der Unamuno und Pirandello? Aber: an ihnen uns nicht zu messen, hieße nicht weniger, als sie verleugnen. Jede Dummheit beginnt mit einen Vatermord.

Wenn wir nicht dumm sein wollen, bleibt uns nur übrig, den gewagten Vergleich zu wagen und unsere Winzigkeit zur Kenntnis zu nehmen. Doch belohnt uns der Vergleich zumindest mit der Antwort auf die Frage, warum wir klein sind und jene groß: Weil jene die Grundlagen sich zu eigen gemacht, auf denen alles Praktische und Spezielle sich wie von selber aufbaut, indes wir nur praktischen und speziellen Unfug, die sogenannten Realien, lernen; weil jene die Form ihres Denkens geübt, indes uns bloß noch Inhalte faszinieren; weil jene den Gang der Rechnung verfolgt, indes wir nur mehr die Resultate kennen

Man hat eingewendet, die humanistische Bildung erzeuge einen pro-fessoralen Menschentypus. Je nun: der Schwachsinn weiß sich eben nur mit Verleumdung zu behelfen. Aber j. angenommen den Fall, jene Behauptung beruhe auf Wahrheit: so tendiere ich immer noch mehr zu dem altersgrauen Professor als zu dem oft nicht mehr ganz „jugendlichen“ Kretin, der nicht einmal mehr mit seiner Muttersprache umzugehen weiß. Die Verächter der humanistischen Bildung ahnen ja nicht, was wir, freilich auch nur aus zweiter Hand, wissen: daß, was sie für Ballast erklären, all das enthält und bietet, was der moderne Mensch formal und sachlich benötigt. Ja mehr noch: die klassische Bildung gewährt nicht nur ein fundamentales Verständnis aller modernen Sachverhalte, sondern sie schafft auch Tugend, sie verhilft auch zu einer lebensgerechten Verhaltensweise. Und die Preisgabe dieser Bildung zeitigt nicht nur intellektuelle, sondern auch psychisch-sittliche Folgen bis zur Neurose.

Kassner — um zu unserem Anlaß zurückzukehren — hat den sachlichen Wert der klassischen Bildung mit seinem Werk, deren sittlichen Wert aber mit seinem ganzen Leben erwiesen: die Lähmung war kein Argument, weder pro noch contra. „Das Entscheidende geschieht trotzdem“, sagt Nietzsche. Die klassische Bildung bewirkt im Grunde nichts anderes als diese Einsicht, und sie ruft eine Geisteshaltung, eine Seelenkultur hervor, die diese Einsicht akzeptiert und das Entscheidende, weil es ja trotzdem geschähe und also geschehen muß, bewußt geschehen laß. Die klassische Bildung erzieht uns zum Einverständnis mit dem Schicksal; sie gibt uns das Recht, uns als organischen Teil des Welt-Ganzen zu empfinden, und sie schenkt uns die Freiheit, das . Entscheidende zu wollen; sie macht uns glücklich, indem sie uns verpflichtet.

Das Dilemma unseres Geistes, die taube Frucht unsrer Absage an die wahre Bildung, zeigt sich am schrecklichsten-darin, daß „der große Begriff der Pflicht“ (Goethe) dem Begriff des Glückes weicht, und zwar dem schäbigsten, einem ganz materialistischen Begriff. O nein: ich propagiere keineswegs eine Seelenkultur des Unglücks!. Ich meine nur zweierlei: einmal, daß ein Zustand jenseits von Glück und Unglück anzustreben sei; und zum anderen, daß das Glück sich nicht fangen läßt wie ein Schmetterling, mit einem Netz, sondern daß es uns nur zuteil wird auf einem indirekten Weg: indem wir unsere Pflicht erfüllen. Der Mensch der Gegenwart aber wähnt, das Glück ließe sich auf eine direkte Weise gewinnen: durch die Wahl dieser Partei oder jenes Berufes: also materialistisch. Da er das ideellste aller irdischen Güter auf direkt-materialistische Weise anstrebt: wie darf uns da noch wundern, daß er sich nicht mehr um die Fundierung seiner Intelligenz, sondern nur mehr um deren praktische Anwendung kümmert? Daß er nicht gebildet schlechthin, sondern speziell befähigt sein will? Daß er nicht wissen, sondern bloß wirken will? Also rundet sich der Circulus vitiosus...

Wie, sofern man dies für ein Übel hält, diesem abzuhelfen sei? Nun, ich halte nicht viel davon, den Finger ins Rad der Geschichte zu stecken. Mir scheint nur, es komme darauf an, die Dinge so zu sehen, wie sie nun einmal sind; der einzelne mag daraus seine Folgerungen ziehen. Ich selbst bekenne mich zu einer Arbeit zwar in der Zeit, aber abseits von ihren Interessen; ich bekenne mich zu der Größe der Väter und zu unserer eigenen Winzigkeit, und zwar nicht aus Bescheidenheit, sondern aus purer Lust an der Wirklichkeit; ich bekenne mich zum Realismus. Und deshalb schließe ich, dabei zurückfindend zum Ausgangspunkt unserer Meditation, mit einem Worte desjenigen Mannes, der den Weg des Geistes uns mit seinem Werke vorgeschrieben, mit seinem Leben aber vorgelebt hat, mit einem Wort des alten Goethe: „Der Körper muß, der Geist will, und wer seinem Wollen die notwendigste Bahn vorgeschrieben sieht, der braucht sich nicht viel zu besinnen.“

Die Generation eines Kassner hat diesen Satz noch gelebt; wir aber finden, vor lauter unbrauchbarem Wissen und nutzlosem Tätigsein, kaum noch die Zeit, ihn zu lesen; wir haben's nämlich eilig zum Mond, anstatt zu uns selbst.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung