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Honeckers fleißige Helfer

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Als vor eineinhalb Jahren die Festnahme einer gewissen Renate Lutze, ihres Mannes Lothar-Erwin Lutze sowie des ebenfalls im Bonner Verteidigungsministerium tätigen Jürgen Wiegel unter dem Verdacht der Spionage für die DDR bekannt wurde, regte sich niemand sonderlich darüber auf. Nach offizieller Darstellung handelte es sich um „kleine Fische“, die nur zufällig enttarnt worden waren. Die Zentralfigur, Renate Lutze, war lediglich Chefsekretärin im Sozialreferat, wo sie allenfalls - so hieß es damals - die Versorgung der Bundeswehr mit frischen Socken oder die Preisgestaltung bei Kantinenbier ausspionieren konnte.

Ihren Ost-Berliner Auftraggebern hat sie aber ganz andere Dinge übermittelt, die an den Nerv der Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik gehen und auch die NATO ganz erheblich tangieren. Das konnte sie, weil Schlamperei, Gewohnheitstrott und politische Verfilzung es ermöglichten, daß nicht nur ihr Dienstherr, der Ministerialdirektor und frühere Kanzlerfreund Laabs, fast alle Geheimpapiere auch der höchsten Geheimhaltungsstufe anfordem und einsehen konnte, sondern sogar seine Sekretärin Lutze - angeblich stets im Auftrag des Chefs. Die Alarm-, Krisen- und Gefechtsführungspläne der Bundeswehr, die Versorungsmaßnahmen im Ernstfall, Analysen der Kampfkraft und Beschreibungen der Schwachstellen - insgesamt rund tausend Dokumente - wanderten so photographiert und photokopiert in die Tresore des Staatssicherheitsdienstes der DDR.

Das katastrophale Ausmaß des Spionageskandals will Verteidigungsminister Georg Leber erst aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erfahren haben, die vor zwei Wochen mit den sensationellen Retails an die Öffentlichkeit trat. Dabei blamierte sich der sonst so verdienstvolle Minister jedoch derart, daß sein Rücktritt nur noch eine Frage der Zeit, sprich: des möglichst am wenigsten Aufsehen erregenden Zeitpunktes, ist.

Die politischen und militärischen Langzeitwirkungen sind gar nicht abzuschätzen. Immerhin kann der Ost block auf seinem Erfolgskalender ein weiteres dickes Kreuz machen - und dort sind nicht gerade wenige schon verzeichnet. Vor allem die Bundesrepublik Deutschland schneidet in dieser Erfolgsbilanz besonders „gut“ und die deutsche Spionageabwehr besonders schlecht ab. Und das ist um so bedenklicher, als gerade das bundesdeutsche Territorium für die östlichen Geheimdienste der interessanteste Tummelplatz ist. Als Frontstaat der NATO und ideologisches Bollwerk gegen den kommunistischen Machtblock bietet die Bundesrepublik sowohl für Spionage als auch für Zersetzungsarbeit ein hochsensibles Betätigungsfeld. Insbesondere die Nachrichtendienste der DDR sind sehr rührig, sie haben nicht nur aus „nachbarschaftlichen“ Gründen ein sehr hohes Interesse an der Nachrichtenbeschaffung, sondern auch verblüffend einfache und dabei sehr wirkungsvolle Methoden der Agentenwerbung sowie des Agenteneinsatzes. Wenn SED- Chef Erich Honecker vor noch nicht allzu langer Zeit damit prahlte, er sei über Vorgänge in den Bonner Regierungsetagen bestens informiert, ist das nicht nur zum Handwerk gehörendes Klappern, sondern dürfte ziemlich genau der Wahrheit entsprechen.

Dabei planen die Geheimdienstler den Einsatz eines Agenten langfristig im voraus. Ihnen kommt ein spezielles Dilemma der Bundesbehörden sehr entgegen. Die Vielzahl der vom Osten in die Bundesrepublik geflüchteten oder legal übersiedelten Deutschen diente als schier unerschöpfliches Rekrutierungsreservoir. Es versteht sich von selbst, daß die bundesdeutschen Behörden nicht in jedem einen potentiellen Agenten sehen können. Und doch ist genau das die Schwachstelle. Wie viele Flüchtlingsschicksale bewußt manipuliert und von den Ostdiensten aufgebaut worden sind, kann kaum nachgeprüft werden. Auf diese Weise aber gelangen Spione am bequemsten und mit der nachhaltigsten Wirkung in den Westen - als politischer Flüchtling, mit der Reputation des Verfolgten, den man bereitwillig aufnimmt.

Da die östlichen Spionageherren so ziemlich alles interessiert, was in der Bundesrepublik Deutschland geschieht, ist für sie neben der Nachrichtenanalyse aus dem in den Medien veröffentlichten Material vor allem die Kenntnis von Interna in Bundesbe hörden, Wirtschaft und Verbänden von Bedeutung. Ihre eingeschleusten Agenten werden daher meist wieder „angezapft“, sobald sie einen interessanten Arbeitsplatz in Westdeutschland gefunden haben. Die Enttarnungen und Festnahmen machen dies deutlich. 1976 wurden 48 Agenten gegnerischer Nachrichtendienste verhaftet. 37 weitere verließen daraufhin fluchtartig das Land. 13 der Verhafteten waren zehn Jahre und länger tätig. Der Deutsche Gewerkschaftsbund und seine Einzelgewerkschaften blieben ebensowenig verschont wie die Wirtschaftsunternehmen und -verbände; sogar die Kirchen sind für Ost-Agenten interessant.

Die Anzahl der noch unentdeckten, vor allem in den Bundesbehörden eingenisteten Spione wagt man sich gar nicht vorzustellen. Die Verfassungsschützer hüllen sich in ihrem jährlichen Bericht, was diesen Punkt betrifft, jedenfalls in bedeutungsvolles Schweigen - entweder sie wissen es selbst nicht, oder die Schätzungen sind so hoch, daß man sie lieber für sich behält. Alarmierend ist aber die ständig steigende Zahl von Werbungen und Werbungsversuchen. Von 1975 bis 1976 kletterten allein die erkannten um 34 Prozent. Das ist - mit einer Ausnahme von 1971 - der höchste Stand seit über zehn Jahren. Sogar die Stelleninserate in überregionalen Zeitungen werden von den Nachrichtendiensten der DDR für eine Kontaktaufnahme genutzt.

Die Spionageaktivitäten weisen drei Schwerpunkte auf: einmal - als wichtigstes - die Ausforschung politischer Planungen und Entscheidungen, zum zweiten im militärischen Bereich die Informationsbeschaffung über Stärke, Bewaffnung und Ausrüstung der Bundeswehr (dazu strategische Erkenntnisse über Brücken und Straßen) sowie schließlich Wirtschaftsspionage insbesondere im Bereich der Elektronik, speziell der elektronischen Datenverarbeitung. •

Die Ausspionierten machen es aber den Agenten meist auch nicht allzu schwer. Bei vielen Verantwortlichen fehlt das Bewußtsein, an sicherheitssensiblen Stellen zu sitzen und deshalb vorsichtig im Umgang mit entsprechendem Geheimmaterial zu sein. Besonders arg geht es diesbezüglich in den Bundesministerien zu, wo meist entgegen den Sicherheitsvorschriften in den höheren Etagen fast jede Sekretärin Geheimes einsehen kann. Hier hat die „Beförderungspraxis nach Parteibuch“ ein übriges getan, Leute mit wenig sicherheitspolitischem Empfinden auf um so mehr sicherheitsempfindliche Posten zu versetzen. Die Entspannungspolitik hat ebenfalls nicht unerheblich zu einem Abbau dieses Bewußtseins der ständigen Bedrohnung beigetragen.

Die Illusion vom gegenseitigen Wohlverhalten dürfte aber inzwischen endgültig vorbei sein. Tatsache ist, daß die Spionagetätigkeit gerade der DDR seit ihrem Beginn erheblich stärker geworden ist. Schon 1966 versuchte der sowjetische KGB mit der Hilfe des ostdeutschen Nachrichtendienstes, dem frischgebackenen Außenminister Willi Brandt eine Sekretärin „unterzujubeln“, die der DDR-Agent Heinz Sütterlin per gezielter Heirat (übrigens schon 1960) zur Beschaffung von Aktenmaterial aus dem Auswärtigen Amt angestiftet hatte. Das größte (bisher bekannte) Meisterstück vollbrachte der Ost-Berliner Geheimdienst mit der lange vorbereiteten Installierung des Spions Günter Guillaume im Nervenzentrum der Bonner Regierung. In seinen möglichen Auswirkungen scheint der Spionagefall Lutze aber den Fall Guillaume noch in den Schatten zu stellen.

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