6836752-1975_19_03.jpg
Digital In Arbeit

Sicherheit ist ein fragiles Gut

19451960198020002020

Die bedrohte innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland hat sich buchstäblich zur internationalen Gefahr ausgeweitet. Der blutige Anschlag auf die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm durch die Baader-Meinhof-Nachfolgeorganisation „Kommando Holger Meins“, der zwei Unschuldigen und einem Terroristen das Leben kostete, signalisiert das Ausweichen der Polit-Gangster auf Schauplätze jenseits der Staatsgrenzen, da ihnen der heimische Boden allmählich zu heiß wird. Zurück bleiben Entsetzen, politische Emotionen, Gegensätze über das, Avas zu tun ist.

19451960198020002020

Die bedrohte innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland hat sich buchstäblich zur internationalen Gefahr ausgeweitet. Der blutige Anschlag auf die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm durch die Baader-Meinhof-Nachfolgeorganisation „Kommando Holger Meins“, der zwei Unschuldigen und einem Terroristen das Leben kostete, signalisiert das Ausweichen der Polit-Gangster auf Schauplätze jenseits der Staatsgrenzen, da ihnen der heimische Boden allmählich zu heiß wird. Zurück bleiben Entsetzen, politische Emotionen, Gegensätze über das, Avas zu tun ist.

Werbung
Werbung
Werbung

In seltener Einmütigkeit hatten alle Parteien im Deutschen Bundestag den Entschluß gebilligt, der Erpressung von Stockholm nicht nachzugeben. Kein Widerspruch erhob sich gegen Schmidts Rechtfertigungsrede, die geforderte Freilassung der Rädelsführer der Baader-Meinhof-Bande hätte das Ende aller Sicher-

Ex-Bundespräsident Heinemann: Kein Wort über Verbrechen

Photo: Archiv

heit bedeutet. Lob über die Zusammenarbeit, „mit Stockholm, .depeschierte auch Amerikas Außenmini ster Henry Kissinger an den Chef des Bonner Auswärtigen Amtes, Hans Dietrich Genscher: Die harte Haltung der Bundesrepublik habe zur Bekämpfung des Terrorismus in der Welt beigetragen. Im betroffenen Schweden beschränkte sich vereinzelter Unmut auf den Seufzer, Bonn habe Stockholm eine schwere Verantwortung aufgebürdet. Heftiger dagegen stellten schwedische Zeitungen die Schlagkraft der eigenen Polizei in Frage, zumal Hinweise auf Eskalation anarchistischer Umtriebe aus Deutschland seit Wochen an die Öffentlichkeit gesickert waren.

Keine Vorwürfe gegen die Haltung im aktuellen Notfall zwar — aber herbe Kritik an früherer Unbesorgtheit, die fraglos zum Stockholmer Drama mitbeigetragen hat: Ohne die Adressaten zu nennen, beklagte der CDU/CSU-Fraktions-führer im Bundestag, Karl Carstens,

Französischer Schriftsteller Sartre: Zur Antwort gezwungen?

Photo: Votava

daß bis zur Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz die Gefährlichkeit politischer Gewaltverbrecher heruntergespielt worden sei. Und jeder begriff die Anspielung auf den Kanzler, der noch im Februar in einer Rede vor den Berliner Wahlen die von Peter Lorenz geäußerte Sorge über Terroranschläge mit ironischen Witzen bedacht und ihm sogar hysterische

Panikmache vorgeworfen hatte. Schon Tage nach Schmidts Spottrufen wurde Lorenz zum Opfer einer Entführung.

Die SPD wird künftig nicht mehr den Linfcsterrorismus als Propagandaerfindung der Konservativen hinstellen können. Das Umdenken kommt indes spät. Noch hat die Nation Töne von SPD-Spitzenpolitikern im Ohr, wonach die Terroristen „sympathische Ziel Vorstellungen“ verfolgen: So der SPD-Fraktionsführer Herbert Wehner in der Bundestagsdebatte zur inneren Sicherheit am 11. März. Während des Wahlkampfes in Schleswig-Holstein konnte man sogar aus dem Munde des SPD-Bundestagsabgeordneten und Schleswig-Holsteinschen Juso-Chefs Notoert Gansei hören, Oppositionsvertreter wie Strauß, Carstens und Stoltenberg seien für die Bundesrepublik gefährlicher als die Baader-Meinhof -Leute.

Keine Garantie für den Bürger

Der deutsche Bürger wird mit dem beklemmenden Bewußtsein leben müssen, daß der Schutz eines einzelnen, unmittelbar bedrohten Menschenlebens in bestimmten Fällen langfristigen Sichertieitsüberlegun-gen geopfert werden kann, daß es für. den einzelnen keine absolute

Deutscher Nobelpreisträger Boll: Merkwürdige Windungen

Photo: Votava

Garantie gibt, die den Staat zwingend verpflichtet, gerade ihn, unter allen Umständen, zu retten. Nach geltender Rechtsauffassung in der Bundesrepublik kann der Staat die Kriterien, für welches Leben er sich einsetzen muß, nach Maßgabe individueller Situationen aufstellen, obwohl jedes Leben grundsätzlich als gleichwertig gilt. Und so beunruhigend, so verunsichernd Helmut Schmidts Ausspruch vor dem Bundestag auch sein mag, wer den Rechtsstaat zuverlässig „ schützen wolle, müsse „innerlich auch bereit sein, bis am die Grenzen dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist“, so bleibt doch diesem Staat keine andere Möglichkeit, als abzuwägen, mit welchen Mitteln er die meisten Menschenleben retten kann: Möglicherweise also auch durch Preisgabe weniger, um viele zu schützen. Genau vor dieser Güterabwägung ist Bonn in der vergangenen Woche gestanden: Der Kanzler, beraten von seinem Krisenstab, mußte entscheiden, ob 27 Anarchisten wieder auf die Menschheit losgelassen werden sollten, um, wie Schmidt es formulierte, eine „unvorstellbare Zerreißprobe für unser aller Sicherheit“ zu inszenieren, oder ob der mögliche Tod aller Geiseln in Stockholm riskiert werden sollte, um eine solche Zerreißprobe zu verhindern.

Die bedrückende Frage bleibt, welche Umstände die Wahl der Mittel wohl beim nächsten Geiseldrama bestimmen werden. Fest steht, daß es in Bonn kein vorgefertigtes Verhaltemsmuster für die Entscheidung gibt. Beide Seiten, der Rechtsstaat und das Vertirechertum, haben bis zum nächsten Anschlag Zeit zum Uberlegen.

Suche nach besseren Wegen

Die Diskussion über die innere Sicherheit beschäftigt heute die gesamte bundesdeutsche Bevölkerung. Das Thema Angst dominiert vor allen anderen geseüschaftspoMtiT sehen Fragen, stellt Mitbestimmung, Abtreitoungsdisput, . ja selbst das Arbeitslosenproblem in den Schatten. KJr ist 'War, daß besserer Schutz'vor Gewalttätern auf zweifache Weise gesucht werden muß: Durch das Gesetz und durch einen Sicherheitsapparat, an dessen Demontage nach den Jahren der CDU-Regierung menschheitsgläubige Utopie-Intellektuelle im SPD-Lager zumindest mit schuld sind. Fest steht deshalb auch, daß neue Instrumente zur Bekämpfung der Kriminalität erforderlich sind. Denn gegenüber den kleinen, zu allem entschlossenen Zellen von Polit-Kriminellen hat die klassische Verbrechensbekämpfung weitgehend versagt: Vergeblich suchen die Fahnder nach dem Mördern des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann und nach den Entführern von Peter Lorenz. Die Verhaftungen in Berlin in der letzten Woche bieten vorerst nicht mehr als Ermutigung.

Der Aufschrei in der ganzen Welt gegen die Polit-Verbrechen hat Antworten auf die Frage nach den Ursachen jener geistigen Verwirrung meist zu kurz kommen lassen. Die Anarchisten, die dem freiheitlichdemokratischen Rechtsstaat den Kampf angesagt haben, berufen sich auf sozialistisch-revolutionäre Ziele: Auf Marx, Mao, Mareuse und andere. Die Terroristen sind, wenngleich oft als Zerrbüder, Epigonen linksintellektueller Ideologen, geistiger Protektoren, die dies allerdings heute als infame Unterstellung von sich weisen. Doch man erinnere sich an die aller jüngste Zeit:

Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre, Kommunist und akademisches Idol der Anarchisten, besuchte am 4. Dezember 1974 den inhaftierten Bamden-führer Andreas Baader in Stuttgart, um hinterher vor Presse und Fernsehen jene Behauptungen über „Iso-lationslolter“ gegen die Gefangenen zu wiederholen, die inzwischen vor aller Welt als Lüge entlarvt wurden. Sartre, der bei seimer vom Gudrun Ensslins Verteidiger, Claus Crois-sant, inszenierten Propagamdavisite keine einzige Gefängniszelle betrat, zeichnete vor den Journalisten ein kafkaesk-erschreckendes Bild von der Ausstattung der Räume. Im Fernsehen sah man die Zellen als komfortalbe Studienstuiben, Es waren sicherlich die gleichen. Doch

Sartre rief zur Gründung eines „Komitees zur Rettung der Baader-Meinhof-Häftlinge“ auf und appellierte dabei namentlich an den sozialdemokratischen Baradeschriftsteller Heinrich Boll. Daß Boll, einer der meistverdienenden Autoren der Bundesrepublik, stets schwer beleidigt reagiert, wenn er nach seiner möglichen Identifizierung mit linken Gewaltverbrechen gefragt wird, langweilt unterdessen ebenso wie die Tatsache, daß er bei der Beurteilung des Linksextremdsmus stets um merkwürdig anmutende Windungen bemüht ist.

Sartre unterstützte den Hungerstreik der Häftlinge gegen angebliche Folter. Den Mord am dem Berliner Kamimergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann entschuldigte der linke Philosoph damit, der Tod von Holger Meins, „den sie so sehr geliebt haben“, habe sie „gezwungen, zu antworten“.

Der frühere deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann, als Altbundespräsident seiner Überparteilichkeit entbunden und wieder aktives SPD-Mitglied, trat am 11. Dezember vergangenen Jahres mit Ulrike Meinhof in einen mehr als Aufsehen erregenden Briefkontakt: Das ehemalige Staatsoberhaupt, das die Chefin einer Mörderbande um Beendigung des Hungerstreiks bat, verlor weder in seinem Schreiben noch in der Öffentlichkeit auch nur ein Wort über die Verbrechen der Terroristen, keine Silbe aber auch über die Steuerung krimineller Aktivitäten durch Kassiber aus den Gefängniszellen. Durch, Heinemanns einseitiges Verschweigen dieser Fakten wurde nicht nur jene Integrität schwer angeschlagen, die er sich als Erster Mann im Staate erworben hatte, sein Verhalten wurde von den Verbrechern, ihren Sympathisanten und Anwälten als moralische Unterstützung gedeutet.

Der derzeit im sonnigen Kalifornien lebende Philosoph Herbert Mareuse, dessen Gedankengut die geistigen Grundlagen der linken „Studentenbewegumg“ maßgeblich beeinflußte, erklärte erst kürzlich in einem Fernsehinterview mit dem Westdeutschen Rundkfumk, Aktivitäten der „Neuen Linken“ wie jene von Stockholm seien „im allgemeinen“ vorhersehbar gewesen. Die „Neue Linke“ sei eine „Phase im Kampf für den Sozialismus in der Periode des Monopolkapitalismus“ und eine „Bewegung von welthistorischer Bedeutung“. Doch es sei ja bloß „Demagogie“, diese Bewegung für die Taten „einzelner Individuen und Gruppen“ verantwortlich zu machen. Für „unterdrückte und überwältigte Minderheiten“ gebe es ein „Nafcurrecht auf Widerstand, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben“.

Wen darf es wundern, daß sich die linken Terroristen als verlängerter Arm intellektueller Autoritäten füh-

lern, als Soldaten für eine richtige Sache? Schon die Namen ihrer Organisationen deuten auf ihr Selbstverständnis als solche Kampf-verbände. Die einen nennen sich „Rote Armee-Fraktion“, andere, so auch die Stockholmer Terroristen, gebrauchen für sich den gleichfalls

militärischen Begriff „Kommando“. Aber sie sind keine Armee, auch keime Bürgerkriegsarmee. Sie sind nicht Soldaten, sie sind Verbrecher. Sie begreifen sich als Kämpfer für die „Weltrevolution“, doch wollte man das weltweit anerkannte Kriegsvölkerrecht auf sie anwenden, müßten sie wegen Geiselmordes als Kriegsverbrecher abgeurteilt werden. Denn Gangster wie die von Stockholm kennen keinen in Kriegs-hiamdtongen völkerrechtlich gewährleisteten Schutz ihrer Opfer.

Polizeiliche Maßnahmen

Die künftigen Maßnahmen der Exekutive gegen das Polit-Verbre-chertum werden sich an jenen Fakten orientieren, die die Terroristen selbst, geschaffen haben. Die Intex--natssemalisierung politischer Kriminalität ist zwar nicht neu: sie begann mit Flugzeugentführungen und fand im September 1972 durch die Katastrophe von Fürstenfeldbruck während der Olympischen Spiele in München einen vorläufigen Höhepunkt auf deutschem Boden. Gelernt hat man daraus allerdings noch zu wenig; vielleicht deshalb, weil man hoffte, die fanatisierten Ideologen würden ihr „Sendungsbewußtsein“ fürderhin an anderen Orten der Welt austoben. Erst die Menetekel internationaler Verbre-chenseskalation, die jetzt direkt aus Deutschland ihren Ausgang nehmen, haben die Verantwortlichen aus einem Vogel-Strauß-Denken erweckt. Ulrike Meinhof selbst war es, aus deren abgefangenen Kassibern das deutsche Bundeskriminalamt den „Befehl“ zum Marsch auf das Parkett jenseits der Staatsgrenzen erkannte. Weitere Indizien für „kosmopolitische“ Pläne der Gangster häufen sich zunehmend. Vor einigen Wochen wurde in Zürich eine kriminelle Vereinigung ausgehoben, die als „Zuliefergruppe“ für die Baader-Meinhof-Bande galt. Auch dort blieben freilich parteipolitische Reflexionen nicht aus: Vor den Schweizer Kamtonswahlen am vorletzten Sonntag empfahl sich eine rechtsstehende Partei den Wählern als Garant der Sicherheit und garnierte ihre Parolen mit Empörung über den Berliner Fall Lorenz.

Wie Bundesinmemminister Mai-hofer jetzt erklärte, hat sich Bonn auf terroristische Aktivitäten von internationaler Dimension „ausreichend“ eingestellt. Ulrike Meinhofs entdecktes Zellemzirkular, so der Minister, habe bereits vor den Stockholmer Ereignissen eine intensive Kooperation mit den Nachbarländern ausgelöst. Die Fahndungserfolge in der Schweiz, ebenso in Frankreich, sind laut Maihofer auf gemeinsame Anstrengungen der Regierungen zurückzuführen. Das Zusammenwirken zwischen Bonn und Stockholm gegen den internationalen Polit-Terrorismus war ein erster Schritt, dem fraglos andere folgen werden, ebenso wie man illusionslos weitere Erpressungsversuche im Ausland erwarten muß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung