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Mehr als eine Kulturfrage

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„Kultur lehrt die rücksichtslose Asozialität unserer Triebanlagen zu zügeln, angstfreier zu ertragen und in soziales Verhalten zu verwandeln. Aber die sittlichen Normen sind ein Gebäude, das weithin auf vulkanischem Boden ruht. Es ist deshalb nicht genug, zu erschrecken über das, was geschehen konnte, sondern immerzu die gleiche Wahrheit in sich einzulassen, daß es von Menschen getan wurde, die nicht als Monstren zur Welt kamen, die vielmehr in oft ziemlich unauffälliger Weise mit geläufiger Begabung es zu Fach-

kenntnissen und begehrten Stellungen in unserer Gesellschaft brachten, ehe sie die erworbenen Fähigkeiten der Menschlichkeiten narkotisch lähmten..bemerkt A. Mitscherlich in seiner Einleitung zu dem 1960 in der Fischer-Bücherei erschienenen Buch ,.Medizin ohne Menschlichkeit; Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses“.

Das Buch enthält auch ein Kapitel mit Berichten über die Tötung mißgebildeter und idiotischer Kinder, und nach der Aufdeckung dieser Vergehen glaubte man allgemein, so etwas könne nie mehr geschehen.

Rund vierzig Jahre danach wurde im November 1981 in England ein Arzt von der Anklage auf Mord freigesprochen. Er hatte im Einverständnis mit den Eltern des Neugeborenen, das mongoloid zur Welt gekommen war, dieses Kind verhungern lassen. Nicht in verbrecherischer Absicht, sondern, so liest man, aus „humanitären Gründen“ und in jenem Land, das vor rund fünfunddreißig Jahren mit dabei war, als man über die Unmenschlichkeiten des Dritten Reiches zu Gericht saß!

Es soll klargestellt sein: Es ging nicht darum, durch komplizierte und aufwendige Maßnahmen das Leben eines lebensunfähigen Kindes zu verlängern. Gerade weil es durchaus lebensfähig war, mußte man es sterben „lassen“.

Nim ist dieser Fall bei weitem nicht der erste, der bekannt wurde. Es war nur das erste Mal, daß es überhaupt zur Anklage und zum Verfahren kam. Derartige Vorgangsweisen sind der englischen und amerikanischen Öffentlichkeit bereits wiederholt zur Kenntnis gebracht worden, und auch in diesem Prozeß sagte ein Zeuge aus, daß rund vierzehn Prozent aller Kinder, die im ersten Lebens- j ahr sterben, aus diesem oder ähnlichen Gründen sterben!

Man hat bis jetzt weggeschaut. Das erscheint aber wirklich zu billig. Zu billig wäre es allerdings auch, wollte man den Arzt und die Eltern als Unmenschen abqualifizieren, ohne sich selber betroffen zu fragen, -„die Wahrheit in sich

einzulassen“, wie Mitscherlich es nannte, — welche Rolle wir selbst dabei spielen.

Wir erleben, wie sich mit tödlicher Konsequenz Glied an Glied reiht. Es beginnt mit der Verneinung der prinzipiellen Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens in allen Phasen seiner Existenz: man nimmt einen gewissen Abschnitt des vorgeburtlichen Lebens aus.

In Österreich sind es die ersten drei Monate, woanders zehn oder auch achtundzwanzig Wochen. Ist diese Frist abgelaufen, darf auch weiterhin das Kind getötet werden. Aus einer ganzen Anzahl von Gründen und — zumindest in Österreich — ohne obere Grenze.

Die Diagnose, daß das Kind behindert zur Welt kommen würde, erregt sicherlich viel Mitgefühl. Es ist aber zu fragen, wieweit das Mitgefühl verbunden ist mit Erleichterung darüber, selbst unbehelligt von später sicherlich notwendiger Hilfeleistung zu sein.

Das dritte Glied in der tödlichen Kette wurde bereits eingangs beschrieben. Ist es nicht logisch, daß man,nach der Geburt das nachholt, was man getan hätte, hätte man es früher gewußt?

Das Jahr der Behinderten geht seinem Ende zu. Als Ausklang solch ein Urteil? Ist es da nicht an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie wir spontan und unreflektiert reagieren, wenn wir hören, daß jemand ein behindertes Kind hat?

Was treibt Ärzte und Eltern dazu, zu glauben, daß der Tod zumutbarer sei als das Leben als Behinderter? Wieso kommt es, daß ein Mensch zum frei verfügbaren Gut eines anderen wird, wie eine bewegliche Habe? Kann es nicht auch daherkommen, daß wir selbst uns so verhalten, als wäre es eben ihre alleinige Angelegenheit, mit der sie auch menschlich allein zurecht zu kommen hätten?

Die Leser dieses Blattes wissen sicherlich, daß die Fristenregelung große Hohlräume von Kul- turentledigung geschaffen hat. Die Abtreibung von weitaus älteren Kindern—mit Indikation: Behinderung - ist auch bei uns schon mehr oder weniger selbstverständlich geworden. Niemand bestreitet dabei, daß es sich um Menschen handelt. Man gewöhnt sich daran, aus gewissen Gründen Menschen zu töten.

Noch ist kein Fall in unserem Land bekannt, wo ein geborenes Kind in Tötungsabsicht unbehandelt geblieben ist. Noch ist dieser Damm nicht geborsten. Noch haben wir eine kleine Weile Zeit, uns zu besinnen und Weichen zu stellen, damit wenigstens dieser dritte Schritt nicht getan wird.

Die Christen erwarten die Ankunft des Herrn. Wie wird er sie finden?

Oie Autorin ist Generalsekretären der Aktion Leben.

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