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,,Papst + Luther"

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Sowjetunion, anno 1992: Gorbatschow ist gestürzt, Ruß-land eine ultranationalistische Militärdiktatur geworden, und halb verhungerte Menschen-massen nehmen blutige Rache an den vermeintlich Schuldi-gen: an früheren KP-Bonzen, Juden und Intellektuellen.

Ausgeburt westlicher Polit-phantasien? Keineswegs. Dieses Szenarium ist schon vor mehr als einem Jahr im Juni-Heß 1989 von "Iskusstvo Kino ", dem offiziellen Organ der sowjetischen Filmindustrie, erschienen. Es wird Zeit, sich solchen Drehbuchvarianten ernsthafter zu widmen. Aber vermutlich hält das Leben Überraschungsmomente bereit, auf die kein Schreibtischphantast verfällt.

Tatsache ist: Während der Präsident des letzten Kolonial-imperiums der Welt bei Staats-besuchen im Ausland und auf dem KSZE-Gipfel dieser Woche in Paris immer neue Ovationen erntet, wankt sein Kremlthron wie nie zuvor. Nicht Fundamentalisten des dogmatischen KP-Flügels rüt-teln ernsthaft daran, sondern der Populist Boris Jelzin, die Warteschlangen vor den leeren Geschäften und die im nationa-listischen Wahn rasenden Mas-sen der nichtrussischen Unions-völker.

In dieser Situation versucht Gorbatschow Bewahrer und Reformer zugleich zu sein -"Papst und Luther in einer Person ", wie es ein sowjetischer Historiker ausdrückte. Ob das gutgehen kann?

Eins dürfte sicher sein: Eine Wiederkehr der dogmatischen Linken,- eine Machtübernahme der Roten Armee mit nachfol-gender Neuunterwerfung Ost-europas, ist keine echte Gefahr mehr. Dazu ist der Kon-kursflügel der Partei zu verun-sichert, zu entmachtet, zu zer-streut.

Aber es könnte zu einem Putsch von rechts kommen, von den Ultranationalisten, die im Herzen zwar antikommunistisch sind, sich jetzt aber auch der enttäuschten Kommunisten als Bundesgenossen versichern würden. Um Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, könnte es - mit Unterstützung der für solche Parolen überall anfälli-gen Armee und der Reste des Geheimdienstes KGB - zu einer Rechtsdiktatur kommen. Durch Massenaufstände von unten und Monsterstreiks könnte derselbe Effekt erreicht werden.

Sicher würden immer mehr Republiken sich dann zur Flucht aus der Union anschik-ken - acht haben sich schon "unabhängig "oder "souverän " erklärt. Militärische Auseinan-dersetzungen wären unver-meidlich. Ob man sich einmal im Rückblick über einen Zerfall der UdSSR mehr als über das Zerbrechen der Donaumo-narchie freuen würde?

Man kann nicht genug für ein Gelingen des Papst-plus-Lu-ther-Experimentes beten.

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