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Schach der Sterilisation

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Natürliche Empfängnisregelung - funktioniert das überhaupt in der Dritten Welt? Zwingt die Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt nicht zu drastischeren Maßnahmen?

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Natürliche Empfängnisregelung - funktioniert das überhaupt in der Dritten Welt? Zwingt die Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt nicht zu drastischeren Maßnahmen?

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FURCHE: Sie treten in Indien für die Verbreitung der Methode natürlicher Familienplanung ein. Hat dieser Ansatz in Ihrem Land überhaupt eine Chance? CATHERINE BERNARD: Zwei der wichtigsten Organisationen, die in Richtung natürlicher Methoden arbeiten, sind das Tamil Nadu Zentrum für Familienentwicklung in Tiruchirapali, das ich leite, und ein ähnliches Zentrum in Madras. Derzeit dürften in rund 3.000 indischen Dörfern sowie in 300 indischen Städten etwa 200.000 Paare die Billings-Methode der natürlichen Familienplanung verwenden.

FURCHE: Wen können Sie mit diesem Angebot ansprechen?

BERNARD: Wenn man es in der geeigneten Weise angeht und dabei die Traditionen und den kulturellen Hintergrund sowie die Lebensgewohnheiten der Menschen berücksichtigt, wird die natürliche Methode allgemein sehr gut angenommen. Weder das Alter, noch das Einkommen oder das Bildungsniveau stellen wirkliche Hindernisse dar. Die jüngeren Paare sehen darin eine ideale Methode, die Intervalle zwischen den Geburten ihrer Kinder zu bestimmen.

FURCHE: Und diese Methode erweist sich auch als wirksam?

BERNARD: Wir haben in Indien die Erfahrung gemacht, daß man die Methode nicht nur als

„Bei 58.000 Paaren kam es insgesamt zu 427 unge-planten Geburten . medizinischen Lösungsansatz verbreiten darf, sondern eben sehr stark auf die persönliche Situation des Paares eingehen muß. Dann ist der Erfolg beachtlich. Im Tamil Nadu Zentrum haben wir von 1978 bis 1986 insgesamt 64.005 Paare beraten. Von diesen haben 2.157 die Methode wieder aufgegeben. Das sind nur 3,5 Prozent. Bei den 58.414 Paaren, die entweder kein Kind mehr bekommen oder mit der Geburt des nächsten noch zuwarten wollten, kam es insgesamt zu 427 ungeplanten Geburten (also bei weniger als ein Prozent der Paare).

FURCHE: Kann man weniger gebildeten Menschen überhaupt die natürliche Empfängnisregelung beibringen?

BERNARD: Die weniger gebildeten Menschen nehmen sie sogar leichter an. Sie erkennen besser die Vorteile des Zugangs. Übrigens sind 22 Prozent der Paare, die wir beraten haben, nicht lesekundig.

FURCHE: Sprechen Sie nur Christen an?

BERNARD: Keineswegs. 52 Prozent unserer Paare sind Hindus und vier Prozent Muslime.

FURCHE: Wie stark sind Methoden der Kontrazeption verbreitet?

BERNARD: Das ist schwer zu sagen. Jedenfalls aber werden enorme Mittel in Verhütungsprogramme gesteckt — und leider nicht in die Wirtschaft investiert. Auch gibt es eine Politik, die die Großfamilie benachteiligt, und eine massive Kampagne für die Sterilisation. Abtreibung wird — wie überall — leicht gemacht.

FURCHE: Gibt es so etwas wie Zwangssterilisation in Indien?

BERNARD: Nein, das nicht. Die Sterilisation wird aber finanziell attraktiv gemacht. So gibt es rund 200 Rupien für die, die sich dieser Prozedur unterziehen. Aber es gibt auch Menschen, die aus purer Verzweiflung zu diesem Mittel greifen.

FURCHE: Zurück zu den Verhütungsmitteln. Sind sie weit verbreitet?

BERNARD: Wir haben in den ersten fünf Jahren unserer Tätigkeit rund 45.000 Paare befragt, was sie vorher praktiziert hatten. 2.480 hatten verschiedene künstliche Verhütungsmittel angewendet, 450 die natürliche Methode und 2.280 hatten auf Abtreibung zurückgegriffen. Unter diesen waren 188 mit drei und 76 sogar mit mehr Abtreibungen! Zwei Frauen hattet schon zehnmal abgetrieben.

FURCHE: Und wie bringen Sie

Ihre Botschaft unter die Leute?

BERNARD: Natürliche Familienplanung kann man nicht ebenso an den Mann bringen wie etwa Verhütungsmittel. Sie ist Teil eines größeren Programms, das eine bestimmte Lebensgestaltung, eine Art des Umgangs der Ehepartner miteinander beinhaltet. Es handelt sich nicht um eine alternative Verhütungsmethode, sondern eine andere Art der Lebensform.

FURCHE: Sie verfolgen also ein erzieherisches Anliegen, das Zeit erfordert. Erfordern die Probleme der Uberbevölkerung nicht rasche Veränderungen?

BERNARD: Diese Vorstellung ist in den letzten Jahrzehnten von der Geburten-Kontroll-Bewegung kultiviert worden. Es entstand der Eindruck, der Welt würde es eines Tages an Ressourcen fehlen, um alle Menschen ausreichend zu versorgen.

Also: Ich spreche von Indien. Das kenne ich. Wir wären heute schon grundsätzlich imstande, eine doppelt so große Bevölkerung, wie sie Indien derzeit besitzt, zu ernähren. Wenn Arbeitslosigkeit herrscht, so liegt das nicht zuletzt an einer Technik, die nicht unseren Bedürfnissen entspricht. Das eigentliche Problem ist die Ungerechtigkeit, die unsere Gesellschaft kennzeichnet. Und dasselbe gilt übrigens für die meisten Länder der Dritten Welt.

FURCHE: Können Sie das illu-, stTicveti?

BERNARD: Wir sind heute 750 Millionen Inder. Zehn Prozent von ihnen gehören der oberen, 20 bis 25 Prozent der mittleren Einkommensschicht an. Der Rest zählt zur armen Bevölkerung.

Nur jeder Zehnte aus dieser Gruppe führt ein Leben, das mit der Würde des Menschen vereinbar ist. Fast jeder zweite Inder hat also nicht genug, um seine minimalen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Und außerdem fragen Sie sich doch einmal: Warum gibt es überhaupt diesen gigantischen Wohlstandsunterschied zwischen den Industrieländern und der Dritten Welt? Die ungerechte Verteilung ist das Hauptproblem.

FURCHE: Und nicht das Bevölkerungsproblem ...?

BERNARD: Wer spricht am meisten von Bevölkerungskontrolle? Sicher führen auch manche indischen Politiker das Wort im Munde. Aber hauptsächlich wird davon in den um ihre Privilegien besorgten Industrieländern gesprochen. Sie und ihre Organisationen wie die Weltbank haben strategische Punkte in der Dritten Welt besetzt, um ihr Anliegen, die Bevölkerungskontrolle, voranzutreiben. Wem wirklich die Bevölkerung der Dritten Welt

„Überfluß produziert eine menschenunwürdige Situation wie auch Mangel“ am Herzen liegt, der würde nach Lösungen Ausschau halten, die der Würde des Menschen entsprechen.

FURCHE: Und warum sind Ge-burtenkontroll-Programme nicht menschenwürdig ?

BERNARD: Sie argumentieren nur mit Zählen. Sie Übersehen, daß es nicht eine abstrakte Größe „Bevölkerung“ gibt, sondern nur Personen. Ihnen geht es um die Verringerung einer statistischen Zahl — und nicht um das Wohl von Menschen. Sonst dürfte doch dieses Hantieren an Statistiken auch nicht Menschen das Leben kosten, wie dies bei der Abtreibung der Fall ist. Und keiner spricht von den vielen zerbrochenen Ehen und Familien, die diese Programme produzieren.

FURCHE: Was sollte also Priorität haben?

BERN ARD: Programme, die dafür sorgen, daß jedes menschliche Leben sich in Würde entfalten kann.

FURCHE: Was verstehen Sie eigentlich unter menschenwürdig?

BERNARD:, Ausreichende Nahrung, entsprechende Kleidung, angemessene Bildung und Zeit zur Erholung sowie Möglichkeit zu geistiger Entwicklung. Das wäre in etwa die Grundlage, die es Menschen ermöglicht, normal aufzuwachsen. Ein Uberfluß an diesen Gegebenheiten produziert ebenso eine menschenunwürdige Situation wie ihr Mangel. Jeder Mensch, jede Familie, jede Institution, jeder Staat trägt Verantwortung dafür, daß weltweit diesbezüglich Gerechtigkeit hergestellt wird. Hier sind wir am Kern des Bevölkerungsproblems.

FURCHE: Was bedeutet das nun konkret?

BERNARD: Jeder kann an der Lösung des eigentlichen Bevölkerungsproblems mitwirken, indem er in seinem Bereich für die Herstellung eines Gleichgewichts sorgt.

FURCHE: Gibt es für dieses Gleichgewicht einen Maßstab?

BERNARD: Selbstverständlich. Das Evangelium. Jeder sollte einmal sein Leben unter diesem Blickwinkel betrachten.

Schwester Catherine Bernard ist Ärztin und Direktorin des „Tamil Nadu Family Development Centre“, einer Einrichtung der regionalen Bischofskonferenz. Dieses Werk beschäftigt 120 Mitarbeiter, die Methoden der natürlichen Familienplanung vor allem im ländlichen Bereich bekanntmachen.

Das Gespräch mit Schwester Bernard führten Alexa und Christof Gaspari.

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