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Schulter an Schulter!

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Politische Auguren bangen um den Herbst: Es wird eine heiße Saison werden. Man sollte den Sommer nutzen, über das Zentralthema der Menschheit nachzudenken: Frieden in Gerechtigkeit.

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Politische Auguren bangen um den Herbst: Es wird eine heiße Saison werden. Man sollte den Sommer nutzen, über das Zentralthema der Menschheit nachzudenken: Frieden in Gerechtigkeit.

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Wir sind in Österreich, Gott sei Dank, nicht Afghanistan, nicht Nikaragua, nicht El Salvador. Frieden, unseren Frieden, haben wir ja leidlich, wie die Opulenz, und eine gewisse Trägheit und eine relative Ruhe — nicht viele Demonstrationen, keine Rebellionen, geschweige denn Revolutio-

nen. Die letzteren werden nicht einmal mehr gedacht, geschweige denn geplant.

Wejr hinter die Kulissen schaut, sieht doch noch anderes: Mit dem österreichischen Frieden, den wir uns selbst zu geben haben, täglich, sieht es gar nicht so rosig aus, wie es das Postkartenösterreich der Lipizzaner, der Salzkammergut seen, der Mozartkugeln der Welt vorstellt.

Hinter den Wahlbezirken der statistisch erfassten Wähler, hinter ihren Wähler stimmen, stehen in einer gewissen Härte, Kompaktheit, die politischen Landschaften, die durchaus nicht mit den Wählerzahl-Landschaften identisch sind. Wer will etwa, in Kärnten, wenn er sich nur etwas umsieht, übersehen, wie sehr hinter dem obligaten Rot eine andere Farbe hervorschaut, verblichen fast, wieder belebt, nächtlich aufklingend in altvertrauten Liedern, offen sich äußernd im Wort, im Widerwort gegen „diese verfluchten Slowenen“?

Nun war gerade Kärnten ein Land der altösterreichischen Hu- manitas Austriaca, des friedlichfreundlichen Zusammenlebens von Slawen und „Deutschen“ in den langen Jahrhunderten, vor dem großen Riß, der im 19. Jahrhundert sich auftut, aufgerissen wird, und das alte Reich, das alte Österreich, das alte Europa zerreißt. Bis heute. Der Eid der Kärntner Herzoge auf dem wundersam erhaltenen Herzogstuhl wurde ja in slowenischer Sprache geleistet.

Humanitas Austriaca, österreichische Humanität: hochtonig noch im „Rosenkavalier“ von der Marschallin intoniert, nicht mehr ouverture, sondern Abgesang — wie der ganze Hofmannsthal mit seiner Beschwörung des österreichischen Menschen ein Abgesang war…

Humanitas Austriaca: Sie lebt, bebend, in der großösterreichischen Dichtung, mitten in Weltgewittern erdichtet, eines Joseph Roth, eines Hermann Broch, und, nicht zu vergessen, in hochberühmten Ärzten, einigen Rechtsdenkern, einigen Naturwissenschaftern, einigen Schriftstellern etc., die der anderen Seite der Humanitas Austriaca, der österreichischen Barbarei, gerade noch rechtzeitig, für ihr Leben rechtzeitig, entkamen.

Humanitas Austriaca: Sie lebt heute wieder, ein gewisses Etwas, un certain sourire, Lächeln, eine gewisse Sentimentalität, eine gewisse Art, es doch nicht zu ernst zu nehmen und auf ein Letztes ankommen zu lassen, in Nachgeborenen: Menschen in Budapest und Krakau, in Friaul, ja, hier oft übersehen, im alten Vorderösterreich, rund um Freiburg i. B.

österreichischer Unfriede, um das dunkle Kind, das immer wieder geboren wird, beim Namen zu nennen, kommt uns zu, ganz offen, brutal, in den nahezu in Permanenz praktizierten Vorwahlzeiten — immer ist Vorwahlzeit heute in Österreich: in den ständigen „Ausrutschern“, wenn da ein Abgeordneter im Hohen Haus, das immer auch ein Niederes Haus kleiner, ressentimenterfüllter Leute ist, gleich einer ganzen anderen Partei unqualifizierbar Deppertsein vorwirft.

Österreichischer Unfriede: Er lebt in alten, mittelalten und jungen Menschen in einer Fülle von Ressentiments die, von Alten angeheizt, wiedergeboren werden: böse Erinnerung an böse Zeiten, in der Ersten Republik, an die „Schwarzen“, auf die sich heute wohlfeile Hiebe konzentrieren.

österreichischer Unfriede: Er lebt im Bodensatz im kalten braunen Kaffee, in roten, ja auch in „schwarzen“, nach-schwarzen Ressentiments, die mehr sind als nur ungute Sensibilisierung alter Schmerzen, Leiden, Ungerechtigkeiten, erfahren vom Gegner, zum Feind stilisiert und als Feind aufs Korn genommen in dem Bürgerkrieg, der doch gar nicht lange hinter uns liegt: 1918 bis 1938.

Um es kurz anzumelden: Die heutige politische Lage, also die blaurote Koalition, und die zum permanenten Neinsagen, wie ihre Gegner ihr vorwerfen, verdammte einzige Oppositionspartei, sind eingeladen — durch die Weltlage bereits — ihre wahren Gesinnungen, ihre existenziellen Gesinnungen, den Geist, der sie beherrscht, zu überprüfen: mit Rücksicht auf sich selbst, mit Rücksicht auf den

Partner, den Gegner.

österreichischer Friede: Wie sollen sie Zusammenleben, in den existentiellen Tiefenschichten sich begegnen, nicht nur in Tages- gesöhäften, im leidigen Handel und Wandel, wenn die einen die österreichische Nation für „einen jüdischen Dreh“ (so ein Student zu mir), ein älterer Alter Herr seiner Verbindung sie für eine französische Propaganda-Masche ab 1918 hält, dazu bestimmt, den Anschluß abzuwehren, wenn andere — so noch sozialistische Emigranten nach 1945 in London — die österreichische Nation als ein Hobby reaktionärer Habsburgia- ner verstanden?

österreichischer Friede: Er bedarf täglicher Praktizierung, die aber voraussetzt, daß jeder Mann und jede Frau sich einladen lassen, ihre anerzogenen, angebildeten politischen Haltungen zu überprüfen, sie wörtlich zu revidieren: zu besehen, wie weit sie tragfähig sind, gemeinsam mit den Andersdenkenden, Andersglaubenden die Lasten der Zukunft, die ja schon begonnen hat, auf sich zu nehmen.

Schulter an Schulter ? Ja: Schulter an Schulter.

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