6852946-1977_02_13.jpg
Digital In Arbeit

Textilindustrieller, Dichter und Denker

Werbung
Werbung
Werbung

Die Werke Hermann Brochs (1886-1951) sind ins Englische, Spanische, Französische, Serbo-Kroatische, Italienische, Polnische, Schwedische, Tschechische und sogar ins Japanische übersetzt; wieviele seiner österreichischen Landsleute mögen sie gelesen haben? Sein Hauptwerk, „Der Tod des Vergil“, hielt der Verleger Kurt Wolff für derart bedeutend, daß der Roman kapitelweise, während der Autor noch an der fünften Fassung arbeitete, ins Englische übertragen wurde und im März 1945 gleichzeitig in beiden Sprachen bei Pantheon (New York) herauskam. Er zählt seither zur Weltliteratur und gilt als völlig eigenständiges Pendant zum „Ulysses“ von James Joyce, der 1938 entscheidend zur rettenden Emigration von Broch beigetragen hat.

Biographische und bibliographische Daten in Schlagwörtern: 1906 Abschluß der Fachschule in Mühlhau- sen/Elsaß als Textilingenieur; bald darauf Entwicklung einer Baumwoll- mischmaschine; 1907 bis 1909 Militärdienst, quittiert aus Gesundheitsgründen; leitender Direktor der väterlichen Fabrik in Teesdorf bei Wien, daneben schon literarische Tätigkeit; im Ersten Weltkrieg Leiter eines Garnisonsspitals; nachher Modernisierung der Fabrik; 1927 Verkauf derselben und freier Schriftsteller; März 1938 Gestapohaft; im gleichen Jahr Flucht nach England und Emigration nach Amerika, völlig mittellos, lebt von Unterstützungen; 30. Mai 1951 Herztod in New Haven. 1949 bis 1961 Gesamtausgabe in 10 Bänden, Rhein- Verlag (Zürich); 1968 Gesammelte Werke in 10 Bänden bei Suhrkamp; seit 1974 wieder bei Suhrkamp „Kommentierte Werkausgabe“ in 16 Bänden, wovon 5 Bände bereits vorliegen, sie soll 1980 abgeschlossen sein (herausgegeben von Paul Michael Lüt-

iWoMAe? JslI esb sab Jiss t.

zeler, Germanistikprofessor an der Washington University, St. Louis, USA).

Und bei uns? Zu den acht Vorträgen internationaler Fachleute bei dem vom österreichischen PEN-Zentrum im großen Saal des Wiener Palais Palffy veranstalteten Broch-Symposion (Mai 1976, anläßlich des 25. Todestages) waren bei freiem Eintritt trotz Presseankündigungen vier Dutzend Interessenten erschienen; bei der Gedenkfeier im Fabrikshof zu Teesdorf war der ganze Ort samt Blasmusik auf den Beinen und beschämte die kläglich kleine Delegation Wiener Literaten. (Freie Hin- und Rückfahrt im Autobus!) Ein beispielloser geistiger Skandal.

Es kann keine Rede davon sein, daß Hermann Broch etwa „schwer“ zu lesen wäre. Auch waren seine Bücher nicht teurer als die anderer moderner Autoren. Doch hat der Verlag nun ein übriges getan: Die „Kommentierte Werkausgabe“, von der auf sieben Jahre verteilt ein bis vier Bände jährlich herauskommen, erscheint gleichzeitig in Leinen und als wohlfeile Paperback-Aufmachung, es können sich also alle bedienen, vom Werkstudenten bis zum Bibliophilen. Vorläufig liegen vor: die Romane „Die Verzauberung“, „Der Tod des Vergil“ und „Die Schuldlosen“ sowie die zwei Bände „Schriften zur Literatur“ (Kritik, Theorie). Für 1977 sind angekündigt: der Roman „Die unbekannte Größe“ und die beiden Bände „Philosophische Schriften“ (Kritik, Theorie).

Im ganzen ist die Neuausgabe in drei Abteilungen unterteilt: I. Das dichterische Werk, II. Das essayistische Werk, III. Briefe. Mit Recht, denn Hermann Broch war ein denkender Dichter und ein dichtender Denker. Auch die vielen Briefe an Verleger und Freunde packen auf packende Weise program matisch das Problem des Erzählens an, den Sinn des Schreibens überhaupt in der Vermassung unserer Epoche, die er in seiner „Massenpsychologie“ großartig analysiert hat. Er hat das bloße „Gschichtlerzählen“ als ethisch wertlos und daher unsittlich abgelehnt. Er war nie politisch, aber immer kulturpolitisch „engagiert“. Seine Romantrilogie „Die Schlafwandler“ schildert über die Jahrhundertwende hin ein Zeitalter des Niedergangs und beurteilt es dabei, vom genau wertenden Titel angefangen. Ebenso „Die Schuldlosen“, ein „Roman in elf Erzählungen“ aus beinah vier Jahrzehnten, zuletzt zusammengefaßt und thematisch vereinigt unter dem vielsagenden Titel. Und „Die Verzauberung“ eines kleinen Ortes durch den skrupellosen Fanatismus eines Außenseiters wird zum Gleichnis ohnegleichen: Provinzwelt als Weltprovinz.

„Brochs Vergil ist eines der ungewöhnlichsten und gründlichsten Experimente, das je mit dem flexiblen Medium des Romans unternommen wurde“, hat Thomas Mann einmal geschrieben. Die „Erzählung vom Tode“, später „Die Heimfahrt des Vergil“ und schließlich „Der Tod des Vergil“ behandelt auf 450 Seiten die letzten 18

Stunden im Lebpn des Dichters, und zwar auf radikale Weise exemplarisch. Dem bewußt Sterbenden gehen die Grundgedanken des Lebens und des Dichtens unaufhörlich durch den Kopf: Soll er angesichts einer schnöden Welt die in aller Vollkommenheit unvollkommene „Aeneis“ vernichten oder dem Kaiser und der Nachwelt überantworten, was keine gültige Ahtwort auf die Seinsfrage werden konnte? Es ging ihm immer - vergebens - um das „letzte“ Wort: „er konnte es nicht festhalten, und er durfte es nicht festhalten; unerfaßlich unaussprechbar war es für ihn, denn es war jenseits der Sprache“. So der Schlußsatz. Vergil überläßt das unvollkommene Werk einer unvollkommenen Welt. Die Weisheit des Leidenden sieht endlich den Sinn des Unsinns ein, daß er das Unbegreifliche hat begreifen wollen. Das Testament Vergils wird testamentarisch interpretiert von Hermann Broch.

KOMMENTIERTE WERKAUSGABE (Bd. 3, 4, 5, 911 u. 912). Von Hermann Broch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1974 ff.-417,522,352, 424 und 320 Seiten, öS 154.—, 154.—, 123.20,154.— und 138.60 (Paperback).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung