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Gute Geschichten für gute Leser

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„Erfundene Wahrheit / Deutsche Geschichten seit 1945“, zwanzig Jahre nach Kriegsende 1965 erschienen, war der erste Versuch des namhaften Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki, erzählende deutsche Prosa einer genau begrenzten Epoche repräsentativ vorzustellen. Schon damals gehörte es zum Auswahlprinzip des Herausgebers, nur abgeschlossene Beispiele einzubeziehen, also keine Fragmente aus Romanen und anderen Prosawerken, deren Ge-samtumfang den Rahmen einer Anthologie sprengen würde. Qualitativ verschrieb sich die Auswahl keiner weltanschaulichen oder literarischen Richtung, sie sollte, wie es später wiederholt formuliert wurde, „gute Geschichten für Leser und Geschichten für gute Leser“ bieten. Das bedeutet: Absage an verstiegene Experimente, die höchstens den Experten etwas angehen.

Dem Werk war ein Dauererfolg beschieden, es hält jetzt schon beim 74. Tausend, und es soll in absehbarer Zeit über das Jahr 1965 hinaus erweitert, also aktualisiert werden. Seither erscheint alle zwei Jahre, zeitlich lückschreitend, ein weiterer Auswahlband: „Notwendige Geschichten, 1933 bis 1945“, kamen 1967 heraus (derzeit 31. Tausend), „Gesichtete Zeit, 1918 bis 1933“, folgte 1969 (und hat das 20. Tausend erreicht), und dann folgte endlich als vierter Band „Anbruch der Gegenwart, Deutsche Geschichten 1900 bis 1918“. Wieder wird der Band nach dem chronologisch angeordneten Textteil durch „Biographische und bibliographische Notizen“ sowie ein zweites „Inhaltsverzeichnis nach dem Alter der Autoren“ (zusammen achtzehn Seiten) ergänzt.

Aufschlußreich und instruktiv, wie immer bei Reich-Ranicki, das „Nachwort“; zum Buchtitel „Anbruch der Gegenwart“ heißt es da, er „habe ihn erst gefunden, als die Auswahl bereits fertig war“. Dieser Titel weise „also weder auf die editorische Absicht noch gar auf ein Programm, doch charakterisiert er ... das Ergebnis“. Der Epiker des 19. Jahrhhunderts habe das Dasein für erkennbar und das Erkennbare für erzählbar gehalten. Diese Überzeugung gehe dem Erzähler unseres Jahrhunderts ab. Er verfremde das Leben, um es zu vergegenwärtigen, schreibe surreal um der Realität, denaturiere um der Natur willen. Die Entstellung des Menschen diene demnach seiner Darstellung.

Die Sammlung beginnt beim Jahr 1900, und zwar mit „Leutnant Gustl“ von Arthur Schnitzler, denn das sei „das erste epische Werk der deutschen Literatur, das sich rigoros auf die Ausdrucksmittel des inneren Monologs beschränkt und mit ihnen alle angestrebten Wirkungen erreicht“. Und den Abschluß — 1918 — bildet wieder ein Österreicher: „Methodisch konstruiert“ von Hermann Broch; es sei der konsequenteste Bruch mit der Illusion. Vor den Augen des Publikums, sozusagen, füge der Autor seinen Helden aus einzelnen Elementen zusammen, setze ihn bestimmten Einflüssen aus und beobachte sein mutmaßliches Verhalten. Dazwischen kommen unter anderen Rilke, Heyse, Schönherr, Saar, Wedekind, Hesse, Musil, Thomas und Heinrich Mann, Hofmannsthal, Arnold und Stefan Zweig, Kafka, Werfel und Sudermann zu Wort, extrem unterschiedliche Geschichten also, die wieder, wie Marcel Reich-Ranicki in einem früheren Band zugab, nichts anderes gemeinsam haben, als daß sie ihm gefallen.

Nach diesen vier Bänden, welche die deutsche Belletristik der ersten 65 Jahre unseres Jahrhunderts in vier Perioden aufteilen, sind für den aufmerksameren Leser vielleicht einige Zahlen von Interesse. Die Bandstärke schwankte unwesentlich zwischen 534 und 606 Seiten, die Geschichten aber sind seit dem zweiten

Weltkrieg offenbar kürzer geworden: denn während die drei Bände der älteren Zeiträume 40 bis 43 Geschichten enthalten, brachte der Nachkriegsband deren 61 unter. Alle vier Bände zusammen stellen 186 Geschichten von 137 Autoren vor. Zwar kommt jeder in einem Band nur einmal vor, manche jedoch scheinen in zwei Bänden auf, Broch, Heinrich Mann, Werfel, Arnold und Stefan Zweig, Bergengruen, Doderer, Hans Henny Jahnn, Kesten und Anna Seghers sogar in drei Bänden, und Alfred Döblin als einziger kommt in allen vier Bänden vor. Die Zahl der Beiträge von Österreichern (oder Autoren, die aus Österreich stammen) schwankt zwischen zehn und fünfzehn pro Band. Die der Erzählerinnen scheint leicht zu steigen: Die ältesten Perioden bringen nur je zwei, die zweitjüngste bringt bereits fünf und die jüngste sechs Geschichten von weiblichen Verfassern. Aber noch viele weitere Beobachtungen ließen sich aus dieser großartigen Repräsentation ablesen.

ANBRUCH DER GEGENWART. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki. Verlag R. Piper & Co., München 1971. 534 Seiten.

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