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Die Schweiz und die UNO

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Unter den staatspolitischen Themen, die in der Schweiz zur Zeit diskutiert werden, beanspruchen deren zwei den Vorrang — nämlich das Problem der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 und die Frage des Beitritts zur UNO. Beide werden an Studientagungen und

Kongressen und auch in der Presse seit einigen Monaten diskutiert. Die Debatte über den UNO-Beitritt, über die im folgenden berichtet werden soll, wurde ausgelöst durch die von manchen Kreisen an den personellen Wechsel an der Spitze des Politischen Departements (Außenministeriums) geknüpfte Hoffnung auf eine „Aktivierung der schweizerischen Außenpolitik“.

Für die Außenwelt wäre zweifelsohne neben der Intensivierung schweizerischer Vermittlungsdienste in internationalen Konflikten und neben einem verstärkten Engagement humanitärer und entwicklungspolitischer Natur in der Dritten Welt ein UNO-Beitritt der Eidgenossenschaft der überzeugendste Beweis für den Willen der Schweizer, im Sinne einer Bezeugung ihrer Solidarität mit der Völkergemeinschaft außenpolitisch vermehrt und konsequent aktiv zu werden. Nicht nur pazifistische und Linkskreise aller Schattierungen haben aus Anlaß des Amtsantritts des neuen Außenministers, Bundesrat Spühler, in diesem Sinne votiert, der Gedanke ist auch von „gouvemementalen“ Persönlichkeiten verfochten worden. So hat sich ein ehemaliger Redakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“ mit Elan für den UNO-Beitritt der Schweiz verwendet.

Die UNO-Idee im Vormarsch

Nun setzte eine Diskussion landauf, landab in der Presse und in politischen Vereinigungen ein, die noch nicht zum Abschluß gekommen ist. Man muß allerdings beifügen, daß das „politische Fußvolk“ und gar die politisch Desinteressierten sich an der Debatte kaum beteiligen, ge-

schweige denn sich an ihr erwärmen. Die Diskussion hat mehr akademischen Charakter, was in diesem Stadium eher von Vorteil sein dürfte, wird doch solcherart das vorzeitige Abgleiten des Gesprächs in die Niederungen der Leidenschaften, der Simplifikationen und Schlagworte

verhindert. Es kann so durch nüchternes Abwägen der Vor- und Nachteile einer schweizerischen UNO- Mitgliedschaft, ihrer Konsequenzen und ihres Preises, die Stellungnahme, die niemand als unmittelbar drängend empfindet, vorbereitet und erhärtet werden. Das ist um so nötiger, als die schweizerische Öffentlichkeit sich bisher in dieser Frage keine Unite de doctrine erarbeitet hat, von der man mit Überzeugung sagen könnte, das Volk stehe geschlossen hinter ihr. Eine intellektuelle und politische Avantgarde, die namentlich in der jüngeren Generation und in der Westschweiz Anklang und Anhang findet, fordert den UNO-Beitritt; wie groß in der Bürgschaft ihr Anhang ist, kann schwerlich zuverlässig ausgemacht werden; aber man geht kaum fehl mit der Vermutung, daß die Befürworter eines baldigen Beitritts einstweilen noch in deutlicher Minderheit sind. Eine andere Frage ist es jedoch, ob die einem Beitritt skeptisch gegenüberstehende Mehrheit sich hauptsächlich aus unbekehrbaren Neinsagern zusammensetze bzw. wie groß der Prozentsatz derjenigen ist, die nur ein bedingtes Nein, auf Zusehen hin, sagen und bereit sind, ihre Hefte zu revidieren, falls die sorgfältige Prüfung aller Aspekte des Problems ergeben sollte, daß erstens die Schweiz mit einem Beitritt der Sache des Friedens und der Völkerverständigung besser dienen kann als in ihrer gegenwärtigen Position, und wenn zweitens es sich erweisen sollte, daß die UNO-Mitglied- schaft mit der immerwährenden und integralen schweizerischen Neutralität in Übereinstimmung gebracht werden kann.

Neutralitätspolitische Bedenken

Was spricht, um mit den Bedenken zu beginnen, gegen einen UNO-Beitritt der Schweiz? Zunächst werden vor allem neutralitätspolitische Einwände erhoben. Die UNO selber habe seinerzeit die Aufnahme der Schweiz als undiskutabel betrachtet, mit der Begründung, die integrale Neutralität sei mit der Mitgliedschaft unvereinbar. Im Art. 42 der UNO- Satzung, der nie außer Kraft erklärt wurde, wird dem Sicherheitsrat das Recht zur Anordnung militärischer Sanktionen eingeräumt und den angerufenen Staaten die Pflicht auferlegt, diese Sanktionen anzuwenden. Gewiß ist vorgesehen, daß Sanktionen, die mit der Neutralität unver

einbar sind, nur von Fall zu Fall angeordnet werden sollen. Die Praxis zeigt zudem, daß dabei auf Neutrale Rücksicht genommen wird, abgesehen davon, daß sich der Sicherheitsrat ohnehin nur auf „Empfehlungen“ einläßt. Das Gewohnheitsrecht, wie es sich in der UNO herausgebildet hat, sieht das Abseitsstehen von militärischen Aktionen vor. Demgegenüber weisen aber die Gegner eines Beitritts (bzw. einer bedingungslosen Mitgliedschaft) darauf hin, daß keine absolute Gewähr geboten ist, daß die UNO dereinst zur integralen These der kollektiven Sicherheit zurückkehrt, wie sie ihrer Satzung entspricht

Die Gegner des Beitritts fügen dieser Hauptthese den Hinweis hinzu, daß die Schweiz der UNO auch ohne die Vollmitgliedschaft wertvolle Dienste leiste und dafür als europäischer Sitz der UNO auch Anerkennung finde. Richtiger und wichtiger als eine Vollmitgliedschaft sei daher eine Intensivierung der Mitarbeit in den unpolitischen UNO-Organisatio- nen. Gegen eine Vollmitgliedschaft einer Schweiz, die neutral bleiben wolle, sprechen auch die Risken, welche für ein neutrales Land die Stimmabgabe in sich schließe. Diese laufe oft auf eine Parteinahme zugunsten bzw. zuungunsten eines Landes hinaus und sei daher dazu angetan, das Vertrauen in die Neutralität und — im Falle der Schweiz — in die Rolle der Schweiz als Sachwalterin fremder Interessen und als Mittlerin zu erschüttern. Der Ausweg der Stimmenthaltung sei oft keine Lösung, da die Stimmenthal

tung des öfteren einer Stellungnahme zugunsten oder zuungunsten eines Landes gleichkomme. (Man denke an die Rolle der Stimmenthal- ter in der Frage der Aufnahme Rotchinas!)

Gegen den Beitritt werden sodann noch eine Reihe von Gründen mehr sekundärer Art und leichteren Gewichtes ins Feld geführt, so die Lähmung der UNO durch die Weigerung gewisser Mächte, ihren finanziellen und sonstigen Verpflichtungen nachzukommen, und durch das Vetorecht der Großmächte, durch die Aussperrung Pekings und durch das unbedenklich ausgenützte Übergewicht gewisser farbiger Staaten — alles Umstände, welche das UNO-Frie- densinstrument stark abwerten und die Möglichkeiten eines Kleinstaates, einen konstruktiven Beitrag zu leisten, auf ein Minimum reduzieren. Es sei sogar zu bedenken, ob die Schweiz ihre politische Handlungsfähigkeit mit einem Beitritt nicht ungebührlich reduziere, da sie gegen die Souveränitätseinbuße keine echte Verbesserung ihrer Aktionsmöglichkeiten eintauschen würde.

Was spricht für den Beitritt?

Die UNO ist, so erklären die Befürworter, heute der Rahmen des Weltgeschehens schlechthin. Mit dem Beitritt zur UNO betritt die Schweiz das Neuland echter Universalität — einer Universalität, die ein Axiom der schweizerischen Außenpolitik ist. Da die Interdependenz unter den Völkern über alle Kontinente hinweg stets wachse und die UNO der einzige Rahmen sei, in welchem die Probleme dieser Interdependenz und Universalität gelöst werden können, dränge sich der Beitritt eines Landes, das wie die UNO den Krieg als Mittel zur Lösung der zwischenstaatlichen Probleme ablehnt, geradezu auf. Überhaupt ist darauf hinzuweisen, daß die Ziele der UNO- Charta in allen wichtigen Punkten mit denjenigen der schweizerischen Außenpolitik übereinstimmen. Die Schwächen der UNO können kein einsichtiger Ablehnungsgrund sein, sie zu unterstützen, im Gegenteil: Angesichts der Übereinstimmung in der Zielsetzung drängt es sich auf, durch Mitarbeit und Einflußnahme dazu beizutragen, daß die Hemmnisse und

Hindernisse, die ihren Erfolg bedrohen, überwunden werden. Die integrale Neutralität, welche nicht als Drückebergerei und egoistisches Abseitsstehen gewertet sein will, verpflichtet die Schweiz zu einem glaubwürdigen Solidaritätsbeitrag an die Völkergemeinschaft. Die Sonderstellung des Neutralen darf nicht zur selbstsüchtigen Selbstbescheidung werden. Die Schweiz ist ohnehin in Gefahr, sich zu isolieren; sie bedarf vermehrter Kontakte. Das geeignetste Forum dafür ist die UNO.

Aber die Neutralität? Neutralität kann nicht Indifferenz bedeuten. Auch der Neutrale hat an der Friedenssicherung mitzuarbeiten und für die Völkerverständigung sich einzusetzen. Gewiß, die dauernde integrale Neutralität bereitet Schwierigkeiten. Aber es ist nicht zu vergessen, daß Neutralität letztlich etwas Kriegsbezogenes, die UNO jedoch eine weltweite Friedensgemeinschaft ist. Wenn praktisch alle Nationen in der UNO mitmachen und ihren Ordnungsauftrag anerkennen, verliert dann nicht die Neutralität im alten Sinne viel, um nicht zu sagen Entscheidendes von ihrer Bedeu

tung? Nun, die Schweizer haben allerdings zu gute Erfahrungen mit der Zurückhaltung gegenüber Neuerungen gemacht und sind mit ihren Maximen im großen ganzen zu gut gefahren, als daß sie solchen Überlegungen ihre Neutralität vorschnell opfern würden. Dies wird aber, erklären die Befürworter der UNO, auch gar nicht nötig sein. Der Sanktionsparagraph ist kein unüberwindliches Hindernis mehr für die Mitgliedschaft eines dauernd Neutralen. Zum Beweis für die Vereinbarkeit von Neutralität und UNO- Mitgliedschaft wird vornehmlich mit dem Beispiel Österreich operiert. Die österreichische Neutralität, die ja eine solche „nach dem Beispiel der schweizerischen“ ist, wird in der UNO voll anerkannt Die dem östlichen Nachbarland gewährte Dispens von Sanktionsverpflichtungen dürfte auch der Schweiz zugestanden werden.

Den geeigneten Zeitpunkt abwarten

Nun, auch die schweizerischen Befürworter des UNO-Beitritts drängen in der großen Mehrheit nicht auf einen raschen oder gar sofortigen Beitritt. Sie sind sich darüber im klaren, daß das Terrain der helvetischen direkten Demokratie zuerst gründlich und geduldig für diesen großen Schritt in eine neue Welt bereitet werden muß. Denn der UNO- Beitritt muß wie seinerzeit der (knapp gutgeheißene) Beitritt zum Völkerbund der Urnenabstimmung unterbreitet werden. So will es die Verfassung. Man ist sich aber darüber nicht im Zweifel, daß der Sache der UNO und der Sache der Schweiz der denkbar schlechteste Dienst erwiesen wäre, wenn das Volk in einer Abstimmung den Beitritt ablehnen sollte. Daher muß der Entscheid nach gutschweizerischer Art gründlich erdauert werden.

Der Auseinandersetzung über Pro und Kontra allerdings können die Eidgenossen nicht ausweichen, auch wenn es vielen unter ihnen fremd vorkommt, sich mit der Außenpolitik (die ja laut Verfassung Sache der Regierung ist) beschäftigen zu müssen. Man hat, abgeschirmt durch den neutralitätspolitisch bedingten Im- mobilismus, im Volk und im Parlament die Außenpolitik lange links liegen lassen. Heute erkennt man, daß Innen- und Außenpolitik unlösbar Zusammenhängen.

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