Markus unter den Qumrantexten

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Der Neustamentler Markus Tiwald bezweifelte in der furche Carsten Peter Thiedes These, das Markusevangelium sei schon um etwa 50 n.Chr. verfasst worden. Nachstehend die - aus Platzgründen gekürzte - Replik Thiedes auf Tiwalds Argumente, die unter der Überschrift "Keine Verschwörung der Bibelwissenschaft" in furche 28/Seite 7 zu lesen waren.

Wir müssen also um der Fairness willen festhalten, dass es das Schreckgespenst einer Verschwörung nicht gibt, und dass die Meinungsbildung sehr wohl quer durch die akademischen Fächer verläuft, mit einer zunehmenden Tendenz zugunsten früher Daten. Das Markus-Fragment 7Q5 ist dabei nur eines von sehr vielen Indizien. Wer wie Markus Tiwald behauptet, dass die "publikumswirksam forcierte Frühdatierung neutestamentlicher Texte" vom Fund des Markusevangeliums abhängig sei, sagt also nachweislich etwas Falsches und führt die Leser in die Irre. Ebenso falsch [...] ist denn auch seine Behauptung, diese Identifizierung des Markusfragments aus Qumran-Höhle 7 habe "in Fachkreisen keine Anerkennung gefunden". Hätte er die jüngsten Publikationen zum Thema gelesen, nicht nur meine eigenen, sondern auch die von Prof. Karl JaroÇs (Wien/Linz), dann wüsste er, dass die tatsächliche Sachlage ganz anders aussieht.

Leider vermittelt Herr Tiwald den Lesern der furche aber auch ein sachlich falsches und tendenziell verfälschendes Bild der Qumran-Funde insgesamt. Die Qumranrollen und -fragmente umfassen eben nicht nur das, was wir heute "Altes Testament" und "Apokryphen" (oder -deuterokanonische Schriften") nennen, sondern vor allem eine Vielzahl von Schriften der Essener und anderer jüdischer Gruppierungen, von denen die allermeisten vor der Wiederentdeckung Qumrans völlig unbekannt waren. Auch das, was heute als "Christentum" bekannt ist, war zu dieser Zeit natürlich nichts anderes als eine jüdische Bewegung. Eine neue und besondere zwar, denn sie verkündete, dass der langerwartete Messias in Jesus von Nazareth gekommen war, aber sie war eben doch kein seltsamer Eindringling von außen, sondern zuerst einmal eine jüdisch-messianische Bewegung unter den anderen, die noch warteten. Das muss man begreifen, um verstehen zu können, dass ein Markus-Fragment in Qumran alles andere als ein Fremdkörper war. Problematisch sind Tiwalds Versuche, das Markus-Fragment 7Q5 mit einigen lockeren Bemerkungen abzuqualifizieren. Er, der das Fragment für "daumennagelgroß" hält, hat offenbar nicht nur einen besonders großen Daumennagel (3,9 x 2,7 cm), sondern auch eine Vorliebe für die längst überholten Gegenargumente eines Kurt Aland, die etwa vom Neutestamentler Ferdinand Rohrhirsch [...] schlagend widerlegt wurden.

Die Forschung hat nun einmal seit den siebziger Jahren [...] Fortschritte gemacht, die man nicht einfach unterschlagen darf. Dazu gehört auch, dass nicht acht Buchstaben auf diesem Fragment unter einundzwanzig teils beschädigten zweifelsfrei feststehen, sondern elf - und auch wenn das [...] wie Erbsenzählerei aussehen mag, so ist es doch gerade bei sehr kleinen antiken Fragmenten wichtig, über jeden einzelnen Buchstaben Rechenschaft abzulegen. Dazu gehört auch das von Herrn Tiwald eigens genannte "Iota", das nicht in der ersten Textzeile steht (dort stehen ein Epsilon und ein Pi), sondern in der dritten, und dort gleich zweimal. Beide gehören allerdings nicht zu dem Wort twi, das es im gesamten Fragment bestenfalls in Herrn Tiwalds Fantasie gibt. In der zweiten Textseite finden wir die auch unter einem konfokalen Laser Scanning Mikroskop zweifelsfrei festgestellten Buchstaben twn (also am Ende griechisch Ny, nicht lota), die zum Wort autwn aus Mk 6,52 gehören. Das ist nun einmal so. Warum Herr Tiwald die Falschaussage veröffentlicht, ich hätte nicht mit dem Original des Fragments 7Q5 gearbeitet, sondern nur mit einer Fotografie, ist mir rätselhaft. Alle meine mit stets neuesten, verbesserten Mikroskopiertechniken durchgeführten Untersuchungen fanden am Original statt, und zwar in Gegenwart von Kollegen (um es juristisch zu formulieren: vor Zeugen).

Die von Tiwald genannten angeblichen alttestamentlichen Identifizierungen von 7Q5 gibt es nicht. Immer wieder einmal sind waghalsige Vorschläge gemacht worden, um die unbequeme Markusidentifizierung loszuwerden. Sie alle sind gescheitert, und dazu liegen einschlägige Veröffentlichungen vor.

Im Interesse der furche-Leser muss noch eine weitere Falschbehauptung korrigiert werden. Es trifft keineswegs zu, dass die christliche Überlieferung "von allem Anfang an in der handlicheren Codexform (der modernen Buchform)" stattfand. Alle Indizien [...] lassen ganz im Gegenteil keinen Zweifel daran, dass wenigstens während der ersten Jahrzehnte auch von den Juden, die sich zu Jesus bekannten, wie von allen anderen Juden auf Schriftrollen geschrieben wurde. [...]

Gern gestehe ich Markus Tiwald zu, dass er als interessierter Beobachter ohne eigene Fachkenntnisse schreibt. So lässt sich auch sein von Kurt Aland abgeschriebener Irrtum verstehen, kleine Fragmente könnten nur dann sicher identifiziert werden, wenn sie beidseitig beschrieben sind "und damit die Möglichkeit einer Gegenprobe gegeben ist". Ein ausgebildeter Papyrologe könnte einen solchen Satz nie schreiben. Die überwiegende Mehrzahl antiker Texte ist auf Rollen überliefert, viele Fragmente sind kleiner als 7Q5, und nirgends gibt es da die Möglichkeit einer Kontrolle durch die bei Rollen in der Regel unbeschriebene Rückseite. Das hindert den Berufspapyrologen nicht daran, auch kleinste Fragmente zuverlässig zu identifizieren. [...]

Auch Vergil-Fragment

Im übrigen müsste auch Herr Tiwald spätestens beim Anblick des ältesten jemals gefundenen Vergil-Fragments nachdenklich werden: Eine einzige Zeile mit 14 Buchstaben, darunter zwei kaum noch lesbare, reichte den Payprologen, um Vergils "Aeneis 4,9" zu identifizieren. Auch auf der Rückseite des Bruchstücks steht eine abgebrochene Hexameter-Zeile. Sie gehört aber weder zur "Aeneis", noch überhaupt zu Vergil, noch zu irgendeinem anderen bekannten, erhaltenen Text der lateinischen Literatur. Hätten also Aland und Tiwald recht, dann gäbe es auch das Vergil-Fragment nicht. [...]

Hier merkt auch der Laie, wie armselig dieses Argument gegen das Markus-Fragment in Wirklichkeit ist. Und so muss man schließlich, ganz im Sinne von Tiwald, nach den "ideologischen Vorgaben" fragen. Was bewegt eigentlich Autoren wie ihn und die, auf die er sich beruft, zu der verbissenen Bekämpfung dieser Markus-Identifizierung? Dass es dieses Evangelium vor dem Jahre 68, also vor dem Verschlussdatum der Qumranhöhlen, längst gab, bezweifelt kaum noch ein Forscher. Dass diese Schrift als ein jüdischer Text über einen jüdischen Messias in Qumran höchst aufmerksame Leser fand, wird auch von heutigen jüdischen Qumran-Experten wie Shemaryahu Talmon und Ory Mazar festgehalten.

Was 1972, als der spanische Papyrologe José O'Callaghan das Fragment erstmals identifizierte, noch für größte Aufregung sorgte, ist heute unter jüdischen, christlichen und agnostischen Altertumswissenschaftlern längst nicht mehr kontrovers. Tiwald bekämpft einen Gegner, den es gar nicht gibt. 7Q5 ist [...] nicht das einzige, sondern eines von vielen Indizien für eine Datierung des Markus vor 68. Und vielleicht sollte man auch noch einmal darauf hinweisen, dass es sich dabei nicht um eine "Frühdatierung" handelt. Die letzten Ereignisse, von denen Markus schreibt, fanden im Jahr 30 statt. Ein Evangeliumsdatum um/vor 68: damit lägen wir rund 38 Jahre später, Was, bitte schön, ist daran "früh"?

Eine Glaubensfrage

Ein jeder Parteilichkeit unverdächtiger Wissenschaftler, der jüdische Altphilologe Günther Zuntz, datierte Markus auf 40 n.Chr. Das wäre dann schon eher "früh" zu nennen. Jedenfalls kann auch ein Markus-Datum um 50 doch heute niemanden mehr ernstlich aufregen. Man muss schon fragen, wie lange denn die ersten Christen gebraucht haben sollen, um zu "reflektieren" über sich selbst, ihre institutionelle Struktur, und ihr Verhältnis zu den anderen Juden. Es ist für den Historiker nicht nachvollziehbar, dass dies mehr als höchstens 20 Jahre gedauert haben soll. Und der Mythos, dass in den Evangelien die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 vorausgesetzt werde, lässt sich auch durch hartnäckige Wiederholung nicht mehr retten.

"Mangelnder Glaube" lautet die Überschrift des letzten Abschnitts von Tiwalds Essay. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Denn in der Tat hat die Wasserscheide des Jahres 70 - mit oder ohne Markus-Fragment! - auch Konsequenzen für das Verhältnis vom Jesus der Geschichte zum Christus des Glaubens. Oder sagen [...] wir es theologisch: Es geht auch um die Entscheidung zwischen Verbindlichkeit und Beliebigkeit. Die Evangelien sind sich darin einig, dass Jesus die Zerstörung Jerusalems und des Tempels voraussagte. Wer Jesus nur als normalen Menschen haben will, der muss den wahren Propheten ausschalten, benötigt also mit allen Mitteln Evangeliendaten nach 70. Denn nur so kann behauptet werden, das frühe Christentum habe solche Jesusworte frei erfunden, um ihn nachträglich zum Propheten zu machen. Wer auf diesem Abhang erst einmal ins Gleiten gekommen ist, hat dann schnell auch die Geschichtlichkeit der messianischen Wunder und der Auferstehung relativiert. [...] Dies sind zwar nicht die Kategorien, mit denen der Historiker und Papyrologe operiert, aber der Theologe muss sich ihnen stellen. [...]

Der Autor, Historiker und Papyrologe, leitet die lasermikroskopische Schadensanalyse der Schriftrollen vom Toten Meer. Die Debatte wird fortgesetzt.

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