VatikanumS4 - © APA/AFP (Collage: Rainer Messerklinger) - Eröffnung des II. Vatikanums, Petersplatz, 11.10.1962

Marlies Gielen: "Konzil nicht hoch genug einzuschätzen!“

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Marlis Gielen, geboren im Jahr der Konzilsankündigung, lebt und forscht in der nachkonziliaren Kirche. Was bedeutet das II. Vatikanum für die Salzburger Neutestamentlerin?

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Marlis Gielen, geboren im Jahr der Konzilsankündigung, lebt und forscht in der nachkonziliaren Kirche. Was bedeutet das II. Vatikanum für die Salzburger Neutestamentlerin?

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Denkt Marlis Gielen an ihre ersten Gottesdienste als Mädchen, dann fällt ihr ein Monsignore ein, der mit dem Rücken zum Volk stand. Dann kam das Zweite Vatikanische Konzil. Wie dieses den Lebensweg der heutigen Professorin für Neutestamentliche Bibelwissenschaft beeinflusste – und wieso Paulus heute zornig wäre.

DIE FURCHE: 60 Jahre nach dem Konzil ist längst nicht alles umgesetzt, was einst als frischer Wind für Begeisterung sorgen sollte. Wem ist das anzukreiden?
Marlis Gielen:
Da lässt sich kein einzelner Verantwortlicher benennen. Nach Ende des Konzils dominierte zunächst die Gruppe derer, die die reformorientierten Impulse aufgriffen und in die kirchliche Praxis umsetzten. Ende der 1970er Jahre läutete dann die Gruppe derer, die den Glauben in Gefahr sahen, eine Phase der rückwärts gerichteten Konzilsrezeption ein. Gegenwärtig scheint diese Gruppe kleiner, wenn auch nicht leiser zu werden. Andererseits nimmt die Zahl derer zu, die erkennen, dass die Kirche mit ihrer Lehre und mit ihren Strukturen in der Gegenwart ankommen muss, wenn sie die Menschen mit der Botschaft des Evangeliums weiterhin erreichen und begeistern will.

DIE FURCHE: Parallel zum Konzil kam eine Welle der Säkularisierung. Hat das II. Vatikanum deshalb weniger Dynamik gezeigt, als viele erhofften? Gielen: Auch als Kirchenmitglieder sind wir Kinder unserer Zeit, Gesellschaft und Kultur. Kirche kann sich also gar nicht von weltlichen Entwicklungen abkoppeln. Wenn Themen gesellschaftlich relevant werden, dringen sie auch in die Kirche ein. Warum wird innerkirchlich zuletzt immer intensiver um die Gleichstellung von Frauen auf allen Ebenen inklusive der Weiheämter gerungen? Weil das Thema Gleichstellung eben auch viele Gesellschaften weltweit umtreibt. Auch die Säkularisierung ist ein gesellschaftliches Faktum. Kirche muss sich damit konstruktiv auseinandersetzen.

DIE FURCHE: Sie waren ein kleines Mädchen, als das Konzil 1965 zu Ende ging. Ihre Erinnerungen?
Gielen:
Ich bin im Jahr der Konzils-Ankündigung 1959 geboren; erste Erinnerungen setzen mit etwa vier Jahren ein. Mit Eltern und Oma war ich im Gottesdienst und schaute auf den Rücken eines alten Priesters. Er sprach Latein, ich verstand also nichts. Ein paar Jahre später war unsere Pfarrkirche in Krefeld komplett umgebaut. Der vorher dunkel und eng wirkende Kirchenraum war plötzlich weit, hell und offen. Das hat sich mir eingeprägt. Meine Eltern fanden toll, was sich alles änderte. Als unter dem Pontifikat Benedikt XVI. der sogenannte außerordentliche Ritus wieder aufgewertet wurde, sagte meine damals über achtzigjährige Mutter: „Wenn die das wieder einführen, geh‘ ich aber nicht mehr zur Kirche!“

DIE FURCHE: Sie kennen also die alte Liturgie noch ein Stück weit und freilich den neuen Ritus. Heute sind Sie Professorin für Neutestamentliche Bibelwissenschaft. Welche Art zu feiern ist „biblischer“?
Gielen:
Der heutige ordentliche Ritus betont den Mahlcharakter und den Aspekt, dass die gesamte Gemeinde Liturgie feiert. Das ist gewiss näher am biblischen Ursprung als der tridentinische Ritus. Im Unterschied zu den Anfängen ist die Eucharistiefeier heute jedoch ein stilisiertes Mahl und nicht mehr integriert in eine richtige Mahlzeit.

DIE FURCHE: Welche Umbrüche hat das Konzil für die Bibelwissenschaft gebracht?
Gielen:
Die positive Wirkung des Konzils auf die Bibelwissenschaft kann man nicht hoch genug einschätzen. Entscheidend ist die Dogmatische Konstitution Dei verbum, Ziffer 12. Hier wird kirchenamtlich endlich festgestellt, dass es für ein richtiges Verständnis der biblischen Texte unverzichtbar ist, ihre Einbettung in die zeitgenössischen „Denk–, Sprech– und Erzählweisen“ ihrer Autoren zu erforschen. Die Kirche akzeptierte damit die Notwendigkeit der historisch–kritisch arbeitenden Bibelwissenschaft. Das bedeutete 1965 einen echten Paradigmenwechsel und führte zu einem ungeheuren Aufschwung der katholischen Bibelwissenschaft, die seither viele neue, wichtige Erkenntnisse erarbeitet hat. Zudem hält das Konzil fest, dass die Exegese die „wissenschaftliche Vorarbeit“ leisten solle, sodass auf dieser Basis dann „das Urteil der Kirche reife“. Die Exegese hat geliefert. Allerdings lässt die lehramtliche Rezeption der bibelwissenschaftlichen Ergebnisse doch sehr zu wünschen übrig. Hier ist noch viel Luft nach oben.

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