"Wir müssen auf Gewalt verzichten"

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RIAD KASSIS, Direktor der Schneller-Schule, einer angesehenen christlichen Schule in der westlichen Bekaa-Ebene im Zentrum des Libanon, und evangelischer Pfarrer, in einem via Mail und Telefon von Deutschland aus geführten Interview über die verheerende Situation in seinem Land.

Die Furche: Von Ihrem Dorf kann man den Berg Hermon und die israelische Grenze sehen. Wie weit sind die Kampflinien von Ihrer Schule entfernt?

Riad Kassis: Es gibt gar keine klare Frontlinie. Mittlerweile bombardiert die israelische Luftwaffe Ziele im gesamten Libanon. Die Angriffe, die unserer Schule am nächsten kamen, dürften drei bis sechs Kilometer entfernt gewesen sein. Gerade liegt eine schwarze Woche mit 33 Toten hinter uns. Am Sonntagmorgen riss mich eine Explosion um 5.15 Uhr aus dem Schlaf: Etwa drei Kilometer von unserer Schule entfernt schlug eine Bombe ein.

Die Furche: Welche Auswirkungen haben die Kämpfe auf Ihre Schule? Wie hat sich der Alltag durch den Krieg verändert, wie ist die Versorgungslage?

Kassis: In diesen Wochen sind Sommerferien im Libanon. Aber da wir im Schneller-Institut auch eine Berufsschule haben, arbeiteten einige Schüler auch in dieser Zeit bei uns. Die ersten fünf Tage des Krieges blieben sie im Institut, dann wurden sie von ihren Eltern und Verwandten nach Hause geholt. Gegenwärtig haben wir 150 Flüchtlinge aufgenommen. Außerdem fühlen wir uns auch für die 350 Flüchtlinge in den benachbarten Dörfern verantwortlich. Dank Spenden aus Deutschland und Großbritannien können wir diese Aufgabe übernehmen. Momentan ist die Bekaa-Ebene von allen Teilen des Libanon abgeschnitten. Die Krankenhäuser laufen während des Krieges über Notstromaggregate. Ich schätze, dass die Dieselreserven für diese Generatoren kaum länger als eine weitere Woche ausreichen dürften. Dann ist Nachschub nötig.

Die Furche: Die israelische Regierung hat in den letzten Tagen immer wieder erklärt, dass es sich nicht um einen Krieg gegen den Libanon, sondern nur gegen die Hisbollah handle. Auch die Regierung in Beirut geht von einem Krieg zwischen Israel und Hisbollah aus. Teilt die öffentliche Meinung diese Sicht der Dinge?

Kassis: Es ist doch völliger Nonsens zu behaupten, es handle sich nur um einen Krieg gegen die Hisbollah. Der ganze Libanon wird belagert. Man muss sich nur die Schäden überall im Land anschauen. Ein Eingreifen der libanesischen Armee würde gegenwärtig wenig ändern. Allerdings gibt es Nachrichten, dass einige Kasernen aus der Luft angegriffen wurden - darunter auch solche, die sich in christlichen Gebieten befinden. 30 libanesische Soldaten sind schon getötet worden.

Die Furche: Erinnern die Ereignisse nicht viele Menschen in Ihrem Lande an die israelische Invasion im Libanon 1982?

Kassis: Natürlich. Nur sind die Zerstörungen heute größer als damals. Wir haben ja jetzt schon fast eine Million Flüchtlinge, tausend Tote und viele Tausend Verletzte. 60 Prozent der Toten und Verletzten sind Frauen und Kinder.

Die Furche: Letztes Jahr sprach die Weltpresse vom "Beiruter Frühling", als nach friedlichen Protesten die syrischen Besatzungstruppen abzogen. Es schien, als ob das Land vor einem Neuaufbruch stünde. Kommentatoren sprachen damals sogar davon, dass die Hisbollah in die libanesische Gesellschaft integrierbar sei. Aus europäischer Sicht oszillierte sie aber weiter zwischen einer sozialen, politischen Bewegung und einer gut ausgestatteten Miliz ...

Kassis: Die offizielle Position des libanesischen Parlaments und der Regierung, die letztes Jahr frei gewählt wurden, ist die, dass die Hisbollah eine nationale Widerstandsbewegung ist. Vor dem Krieg war der nationale Dialog in vollem Gange. Alle Parteien haben sich daran beteiligt und auch schwierige Themen angefasst. Die Entwaffnung der Hisbollah gehörte auch dazu. Aber diese Dinge brauchen Zeit, sie lassen sich nicht im "Hauckruck-Verfahren" lösen.

Die Furche: Ein Staat ohne zentrales Gewaltmonopol, mit starken Milizen außerhalb der regulären Armee offenbart doch eine strukturelle Schwäche. Stellt die Hisbollah nicht eine Gefahr für eine stabile libanesische Innenpolitik dar?

Kassis: Es ist immer wichtig, sich die Wurzeln und nicht die Symptome eines Problems anzuschauen. Die Hisbollah entstand - ähnlich wie die Hamas - als Reaktion auf die israelische Besatzung. Wenn Israel sich gemäß UNO-Resolution 442 aus dem Jahre 1967 aus den besetzten Gebieten zurückziehen würde, gäbe es viele der aktuellen Probleme nicht. Aber natürlich haben Sie Recht: Eine Regierung sollte eine zentrale Armee unterhalten. Doch es gab immer wieder historische Situationen, wo in freien Gesellschaften auch Widerstandsbewegungen bestanden.

Die Furche: In der Vergangenheit hatten die Christen wenig Sympathien für die Hisbollah, weil sie eine Islamisierung der Gesellschaft fürchteten. Nach neuesten Umfragen scheint sich diese Tendenz im Laufe der letzten Kriegswochen deutlich verändert zu haben, weil nun auch die Christen die Hisbollah als nationale Widerstandsbewegung ansehen. Werden die Hisbollah-Kämpfer jetzt zu nationalen Helden?

Kassis: Die Libanesen sehen den israelischen Angriff, wie ich schon sagte, als Krieg gegen das ganze Land. Deshalb suchen alle zusammen nach einer Lösung. Und die Hisbollah-Kämpfer werden nicht nur im Libanon, sie werden jetzt in der ganzen arabischen und islamischen Welt als Helden verehrt.

Die Furche: Das harte Vorgehen gegen Hamas und Hisbollah zeigt, wie stark die Ängste Israels vor fundamentalistischen Terrorgruppen sind, die von Syrien und dem Iran finanziert werden. Mit seinem Atomprogramm und seiner antiisraelischen Rhetorik will der iranische Staatspräsident seinen Staat als führende Regionalmacht im Nahen Osten etablieren. In Europa wird der Krieg im Libanon deshalb als Stellvertreterkrieg empfunden. Wie wird der Iran im Libanon wahrgenommen?

Kassis: Es gibt keine einheitliche Meinung zum Iran. Einige sehen in ihm einen Förderer des libanesischen Widerstands, andere befürchten, dass Teheran nur seinen Machtbereich ausweiten möchte. Natürlich hat der Iran schon jetzt großen Einfluss in Syrien und im Irak. Wenn die Koalitionsarmee eines Tages aus dem Irak abzieht, wird der Iran schnell dieses Vakuum füllen. Ich selbst bin jedoch der Ansicht, dass wir im Nahen Osten nur dann Frieden schaffen können, wenn wir auf Gewalt verzichten. Wir müssen uns den Ursachen der Probleme zuwenden und nach Lösungen suchen. Einseitige Ansätze helfen dabei nicht weiter.

Die Furche: Was ist ihre Hoffnung für den Libanon nach dem Krieg?

Kassis: In Psalm 11,3 heißt es: "Ja, sie reißen die Grundfesten um; was kann da der Gerechte ausrichten?" Ich denke: Der Gerechte wird niemals seine Hoffnung verlieren. Der Gerechte wird sich wieder an den Aufbau machen, er wird hart arbeiten, damit sich Flüchtlinge auch in der Fremde zu Hause fühlen. Der Gerechte wird sich daran machen, eine zerstörte Nation wiederzuerrichten und gebrochenen Seelen zu helfen. Wir werden die Fundamente des Libanon neu aufbauen. In gewisser Weise hatten wir genau diesen Prozess gerade angefangen, als wir durch den Angriff von außen vereinigt wurden. Mit Gottes Hilfe werden wir im Libanon hoffentlich schon in naher Zukunft eine wunderbare Heimat für alle schaffen.

Das Gespräch führte Roland Löffler.

Pädagoge, Theologe, Ökonom

Riad Aziz Kassis, 1960 in Tripoli (Nordlibanon) geborener evangelischer Christ mit libanesischem und syrischem Pass, studierte Wirtschaftswissenschaften in Damaskus und Denver sowie Theologie in Manila, Vancouver und Nottingham, wo er im Alten Testament promovierte. Entsprechend bunt ist auch seine berufliche Laufbahn, die als Angestellter an der amerikanischen Botschaft in Syrien begann und ihn über verschiedene pastorale Aufgaben in Syrien schließlich 1991 in das Johann-Ludwig-Schneller-Institut im libanesischen Khirbet Kanafar führte. Seit 1999 leitet er die renommierte Internats-und Berufsschule in der Bekaa-Ebene und lehrt Altes Testament an der "Near East School of Theology" in Beirut. In den ersten zwei Kriegswochen hat sich Kassis regelmäßig in der viel gelesenen evangelikalen US-Internetzeitung www.christianitytoday.com geäußert. Kassis' Schule ist nach einem süddeutschen Missionar und Pädagogen benannt, der 1860 in Jerusalem das Syrische Waisenhaus, eine der größten Bildungseinrichtungen für arabische Schüler des Nahen Ostens, eröffnet hat. Nach der Gründung des Staates Israel 1948 und aufgrund politischer Belastungen der Familie Schneller aus der NS-Zeit wurden die Jerusalemer Anstalt aufgegeben und zwei Nachfolgeeinrichtungen im Libanon und in Jordanien gegründet. Sie vereinen gemäß der Schneller-Tradition eine christliche Prägung mit einer anspruchsvollen Ausbildung gerade für Kinder aus sozial schwächeren Verhältnissen. Die Schule wird von Christen, Schiiten und Sunniten besucht. Die Erziehung zu Frieden und Toleranz gehört zu ihren Hauptzielen. Träger der libanesischen Schule ist die Nationale Evangelische Kirche von Beirut, Partner in Europa ist das Evangelische Missionswerk in Süddeutschland.

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