Wenn der BIP-Zwang  Lebensglück frisst  - Wachsen, wachsen ohne Rast – und zunehmend auch ohne Ziel: Der Weg der Wirtschaft steht massiv in Frage. - © Illustration: Rainer Messerklinger

"Die Angst ist berechtigt"

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Muss die Wirtschaft wachsen oder kann man bei hohem Wohlstand auch einmal pausieren oder gar schrumpfen? Ein Interview mit dem Ökonomen Mathias Binswanger über Kapital, Klimawandel und schizophrene Debatten.

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Muss die Wirtschaft wachsen oder kann man bei hohem Wohlstand auch einmal pausieren oder gar schrumpfen? Ein Interview mit dem Ökonomen Mathias Binswanger über Kapital, Klimawandel und schizophrene Debatten.

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Im Zuge der Klimakrise wird der Kapitalismus in seiner heutigen Form massiv in Frage gestellt. Welche Chancen haben Reformen? Der Ökonom Mathias Binswanger hat sich des Themas angenommen und kommt zu sehr ernüchternden Ergebnissen.

DIE FURCHE: Gerade in den letzten Jahren ist von Null-Wachstum die Rede, von Null-Grenzkosten-Gesellschaft und von Degrowth. Verstehen Sie diese Versuche?
Mathias Binswanger: Der Wunsch ist verständlich. Wachstum trägt zunehmend weniger zum subjektiven Glücksempfinden bei. Auf der anderen Seite ist Wachstum mit erheblichen Kollateralschäden verbunden, was das Klima und die Umwelt betrifft, und daher ist es auch verständlich, dass man argumentiert, wir brauchen kein Wachstum mehr. Meine zentrale Beobachtung ist aber, dass Null-Wachstum nicht funktionieren kann in unserer Wirtschaft.

DIE FURCHE: Deshalb sprechen Sie von „Wachstumszwang“. Aber wer zwingt die Wirtschaft eigentlich?
Binswanger: Wenn wir die Wirtschaft genauer analysieren, erkennen wir: Entweder sie wächst, oder sie schrumpft. Man kann nicht einfach sagen, jetzt sind wir mit einem bestimmten Niveau zufrieden und da bleiben wir jetzt. Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst, können weniger Unternehmen Gewinne erwirtschaften. Einige Unternehmen gehen dann in Konkurs, was zu weniger Nachfrage nach Investitionsgütern und Vorleistungen führt, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, der Konsum geht zurück. Dadurch bekommen weitere Unternehmen Probleme und gehen ebenfalls in Konkurs. Eine Abwärtsspirale beginnt sich zu drehen. Der Wachstumszwang besteht nicht darin, dass jemand mit der Peitsche dasteht und uns dazu zwingt, weiterzuwachsen. Er besteht darin, dass wir alles versuchen, eine Abwärtsspirale zu vermeiden.

DIE FURCHE: Dann hat Wachstum eigentlich sehr viel mit Angst zu tun.
Binswanger: Mit einer Angst, die berechtigt ist. Man kann das sehr gut in Griechenland sehen, wo sechs Jahre hintereinander kein Wachstum stattgefunden hat. Zwischen 2008 und 2013 sind über 30 Prozent der Unternehmen verschwunden. Die Arbeitslosigkeit ist auf beinahe 30 Prozent angestiegen und der Kapitalbestand und die Investitionen schrumpften. Da sehen wir, was passiert, wenn sich solche negativen Auswirkungen einstellen.

DIE FURCHE: Aber ist nicht die Sättigung der Bedürfnisse das erklärte Ziel der Ökonomie? Keynes etwa sieht die Möglichkeit eines „zufriedenen Kapitalismus“.
Binswanger: Wir leben aber zunehmend nicht in einer Bedürfnisdeckungs-, sondern in einer Bedürfnisweckungswirtschaft. Dieses Sättigungsproblem hat sich eigentlich schon in den 1950er-Jahren in den USA bemerkbar gemacht. Da gab es wirklich Befürchtungen, dass die Haushalte schon alles haben und das Wachstum gefährdet sei. Deshalb wurden Werbestrategien entwickelt, um den Wohlstand weiter am Laufen zu halten. Diese Strategien sind bis heute sehr erfolgreich und werden immer erfolgreicher. Es ging immer weiter. Der Konsum ist die stabilste Komponente des BIP. Auch in der Krise wuchs er sehr regelmäßig. Man konnte nicht beobachten, dass der Konsum einmal nicht gewachsen wäre.

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