Zur seligen Wirtschaftsflaute

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Eine Wirtschaftskrise muss nicht immer nur Elend oder Krieg bedeuten. Sie könnte bei ausreichendem Reichtum und Produktivität schnell überwunden werden - wenn man das Primat des Wachstums außer Kraft setzte.

Dieses Dossier der FURCHE verdankt seine Existenz auf ganz natürliche Art den aktuellen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Die Industrienationen und vor allem Europa leiden noch immer an der Krise von 2008/09. Diese Krise hat sich ähnlich einem Virus von einem zum nächsten Körperteil ver Volkswirtschaften verlagert, deklinierte sich unaufhaltsam von der Immobilienbranche zur Finanzwirtschaft zur Realwirtschaft zu den Staatsfinanzen, wo die Misere nun, noch immer ungelöst, geparkt ist. Diese Krankheit folgt dazu noch einer klassischen Dramaturgie. Wie bei jeder guten Tragödie steht am Finale ein Chorgesang, in den alle und jeder einstimmen muss. Und tatsächlich zahlen wir alle Steuerzahler nun die Rechnung dessen, was einst an anderer Stelle durch die Fehlleistung einzelner Darsteller geschah. Doch das ist nur der Endpunkt einer Entwicklung, die an dieser Stelle systematisch hintefragt werden soll.

Denn die Ökonomie interessiert eigentlich nur die politische Abteilung, also wer die Kosten der Krise zu tragen hat, reich oder arm - oder eben alle. Den Rest des Faches interessiert, ob es hinter all den Äußerlichkeiten liegende Konstanten gibt, die solche Krisen zu unausweichlichen Kontraktionen unseres marktwirtschaftlichen Systems machen - und daher zu vollkommen normalen Phänomenen werden, derer die Wirtschaft bedarf, um neuen Schwung nehmen zu können für einen wie auch immer gearteten Aufschwung. Ein Prozess ähnlich der Lungenatmung, welche die Kontraktion zum Ausstoß sauerstoffarmer Luftteilchen nimmt, um danach wieder sauerstoffreiches Gasgemisch aufnehmen zu können.

Wisse, Kondratiew!

So oder ähnlich muss sich das der Ökonom Nikolai Kondratiew um 1926, kurz vor der großen Depression, vorgestellt haben, als er aus der Wirtschaftsgeschichte "lange Wellen“ der Konjunktur herauslas. Die Fortschritte der Zivilisation sind demnach die treibenden Kräfte des Aufschwungs. Die Dampfmaschine hat demnach 1800 den ersten Fortschrittsboom ausgelöst, danach die Eisenbahn, die Technik und Chemie, das Erdöl und die Informationstechnologie. Nutzen sich diese Errungenschaften durch wirtschaftliche Sättigung ab, sinken die Investitionen und die Wirtschaft rutscht in eine Krise, in der sich bereits jene Errungenschaften vorbereiten und zum folgenden Aufschwung führen. Bei diesem Abschwung, sagt der Ökonom Joseph Schumpeter, werden zwangsweise Unternehmen zerstört, mit der Folge, dass auf ihren Ruinen neue, bessere Unternehmen entstehen können: Das ist Schumpeters kreative Zerstörung.

Kondratiews Problem ist, dass seine Linie gerade und Horizontal verläuft: Dem Reichtum und Fortschritt folgt der Rückfall in die bitterste Armut. Sie berechnet nicht ein, dass Fortschrittsepochen - so sie nicht wie zu Kontratiews Zeiten in einem zerstörerischen Krieg enden - großen Reichtum hinterlassen können, der den wirtschaftlichen Stillstand und Abschwung viel besser abfangen kann. In dieser These schwingt auch die leise Hoffnung mit, dass selbst die Schuldenkrise - in reicheren Ländern als Griechenland - weder zum Staatsbankrott noch zum absoluten Elend weiter Bevölkerungskreise führen muss. Und dass, wie Europa das 2009 verwundert vermerkt hat, die Krise nicht wirklich ins reale Leben eingebrochen ist.

Doch all diese Überlegungen und Modelle führen auch zu einer anderen entscheidenden Frage: Dampfmaschine und IT waren schon - was soll denn den neuen Aufschwung im sechsten Kondratiew-Zyklus verursachen?

Die Suche nach der Innovation

Dazu gibt es zwei Ansätze, die Pessimisten und Optimisten voneinander trennen. Erstere meinen mit manchen US-amerikanischen Ökonomen, dass die Welt zu wenig wirklich revolutionäre Erfindungen mache. In den 60er-Jahren habe man noch von Marskolonien, dem raketengetriebenen Individual-Flugrucksack und Städten in den Tiefen des Meeres geträumt. Erreicht habe man stattdessen bloß, dass der weiße Vollplastik-Toilettendeckel nun aus durchsichtigem Kunststoff gefertigt wird - mit eingeschweißten Plastikfischerln. Verlangsamt sich also der Fortschritt auf einem sehr hohen Niveau? Und endet der Fortschritt überhaupt in einer Designblase?

Das finden die Optimisten nicht und verweisen auf Umwelttechnologien und nachhaltige Energieversorgung durch Fotovoltaik und Windkraft. Niemand weiß, ob das reichen wird, einen neuen Aufschwung auszulösen. Aber Ansätze sind nicht abzustreiten.

Eine dritte Variante des Stillstands wird allerdings viel zu wenig in Betracht gezogen: eine lang anhaltende, aus Gründen des enormen Spar- und Kapitalpolsters abgemilderte Stagnation in den Industriestaaten, ähnlich wie sie Japan seit mehr als 20 Jahren erlebt. Diese Stagnation muss eben nicht zwangsweise höhere Arbeitslosenzahlen und Bankrotte en masse bedeuten. Sie wäre mit einer Wohlstandsverwaltung auf sehr hohem Niveau zu vergleichen. Das entspricht dem alten Versprechen, dass Maschinen die Arbeit tun sollen und der Mensch davon durch mehr Freizeit profitiert.

Unter Ausschaltung des Konkurrenz- und Arbeitsprinzips wäre also ein Zustand herstellbar, den sowohl Karl Marx als auch John Maynard Keynes sich erträumt haben. Man erhält die Strukturen aufrecht und lässt sich von ihnen tragen. Bei 20 Wochenstunden Arbeit und jeder Menge Freizeit - jeder nach seinem Geschmack. Karl Marx denkt beispielsweise ans Fischen und Jagen, Keynes ans Tennisspielen. So ereignet sich ganz Unglaubliches: Der ökonomische Stillstand ist das Paradies, das kommt, wenn die Hölle des Wachstums durchschritten ist.

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