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Ein unbekanntes Meisterwerk der Forschung

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Das, was für den Forscher bei Tieren und Pflanzen das Experiment als Material bietet, um das Geheimnis der Vererbung und ihrer Wege zu erspüren, gewährt ihm beim Menschen der Blick auf die Darstellungen genealogischer Zusammenhänge, diese mögen tabellarisch oder in Listen aufgezeichnet sein. Als ideale, doch schwer zu erreichende Forderung drängt sich die nach Vollständigkeit der zu untersuchenden genealogischen Tatsachen auf. Übersieht man auch nur eine einzige Verwandschaftslinie, dann kann dadurch eine Fehlerquelle entstehen, die das Ergebnis der gesamten Bemühungen in Frage stellt. Das um so eher, je näher die Lücke an die den Ausgangspunkt bildende Person heranrückt. Wollen wir wissen, was ein aus irgendeinem Grunde biologisch interessantes Individuum von seinen Ahnen ererbt hat, so gilt es, seine Ahnentafel mindestens bis zu einer Mindestgrenze zurück restlos zu ermitteln; je höher hinauf, um so besser. Denn dieses ist klar: Eine ererbte Eigenschaft muß von einem, oder von mehreren, nicht zu sehr entfernten Vorfahren herrühren. Es heißt also, zunächst die Eltern, Großeltern, 16 Ururgroßeltern, 32 Urururgroßeltern feststellen, nachher von denen allen die psychischen und physischen Eigenschaften erkunden, ihren Lebenslauf erfahren. Damit ist aber für die Erbforschung nur e i n, allerdings wichtiges Resultat gesichert: lemand hat von seinen Ahnen das und das übernommen. Wir haben indessen zweitens zu sehen, was von den vorerwähnten Eigenschaften auf die Nachkommen dessen weitergeleitet wird, dem wir unser Augenmerk geschenkt haben. Und uns obliegt drittens, vergleichsweise zu betrachten, inwieweit seine Erbmasse auch bei seinen Seitenverwandten, nämlich den Nachkommen seiner Vorfahren, sagen wir bis zur fünften Generation (der 32 Urururgroßeltern), Spuren hinterlassen hat: worin ihm die Onkeln und Vettern Tanten, Basen, Nef-

Um eine derartige Sisyphusarbeit durchzuführen, bedarf es einer benediktinischen Geduld, kritischer Gaben und der Vertrautheit mit der gesamten einschlägigen Vielheit biologischer, medizinischer, soziologischer, rechtswissenschaftlicher und historischer Probleme. Doch in den seltenen Fällen, wo alle diese Eigenschaften in einem Gelehrten vereint sind und dazu Zeit wie Geld zur Verfügung stehen, empfangen wir Werke von unerschöpflichem Reichtum. Es sind das sogenannte Konsanguinitäts- oder Verwandtschaftstafeln, die sich aus der alle Vorfahren bis zu einer gewissen Generation enthaltenden Ahnentafel eines Menschen — des Probanten —, aus der vollständigen Übersicht seiner Nachkommen (männlicher und weiblicher Linie) und aus den sämtlichen Deszendenten der obersten in dem Buch mitgeteilten Ahnenreihe zusammensetzen. Schon bei der Beschränkung auf die Nachfahren der Ururgroßeltern können wir zu beträchtlichen Zahlen gelangen. In Röschs Werk sind 4098 Personen als mit Goethe durch dessen Vorfahren der vierten Generation verwandt nachgewiesen. Ihrer wären zwar erheblich mehr, wären nicht schon bei dieser Begrenzung auf relativ nahe Blutgemeinschaft mancherlei Lücken vorhanden, die auf die Zerstreuung der Goethe-Konsanguinität über den Erdball und auf das Herabsinken einzelner Zweige in soziale Unterschichten oder auf das Verbleiben anderer Teile der väterlichen weitschichtigen Vettern des Dichterfürsten im bescheidenen Lebenskreis seiner bäuerlichen oder dem Kleinbürgertum angehörenden Ahnen zurückzuführen sind.

Ungeachtet dieser nicht vermeidbaren Unvoll-ständigkeit bietet uns die ein Höchstmaß erreichende Arbeit Röschs eine erstaunliche Vielfalt von Einsichten und wertvollen Ergebnissen dar.

Der Raum mangelt uns, um auf alle erbbiologischen Resultate einzugehen, die aus dem Studium des Röschschen Standardwerks zu gewinnen sind. Nur auf ein paar wichtige Einzelheiten sei hingewiesen. Für die Soziologie ist von größtem Interesse, wie sich der Aufstieg einer aus der Bauernschaft übers Handwerk in gelehrte und geistliche Stellung gekommenen Blutgemeinschaft in die Oberschicht, und manchmal in die vornehmsten Adels-''eise konsequent, zäh und unaufhaltsam vollzieht, . wenn dazu die Voraussetzungen gegeben sind: \usdauer, Gesundheit, wirtschaftlicher Sinn und vohlgenutzte Begabung. Das läßt sich an der Nach-ahrenschaft der Goethe-Ahnen Lindheimer-Seip genau verfolgen. Da münden fast alle Deszendenz-Mnien im deutschen Uradel. Die jüngste Generation bringt sogar das Haus Hohenzallern in die Goethe-

Verwandtschaft: Armgard v. Veltheim heiratet den Prinzen Wilhelm Karl v. Preußen, einen Enkel Kaiser Wilhelms II. Uns begegnen da ferner Leiningen, Hardenberg, Pückler, Loen, Marschall v. Biberstein, Veltheim, Münchhausen, Vincke, Lersner, Krosigk, Saldern, Trotha, Zitzewitz, Tettenborn, Quadt, Wuthenau, Bredow, Sponeck, Ledebur, Richthofen, Puttkammer, Bardeleben, Minnigerode, Schenk zu Schweinsberg, Spaur, Gleichen-Ruß-worm... kurz und gut die Quintessenz der Familien, die das alte Preußen machten und ausmachten, samt einigen west- und süddeutschen Geschlechtern derselben Gesellschaftsklasse. In diesem abgehegten Kreis nimmt sich allerdings die große Tragödin Sophie Schröder sonderbar aus, die, aus einem bewegten ehelichen und außerehelichen Liebesleben, rasch auf der sozialen Stufenleiter hinabgleitende Sprossen hinterlassen hat. Sie war eine Base zweiten Grades der „Frau Rat“, der Mutter Goethes.

Sofort drängt sich uns die Frage nach bedeutenden Begabungen auf, die wir in der Verwandtschaft des Dichters des „Faust“ antreffen. In seiner Aszendenz finden wir unter anderen den Maler Lukas Cranach und, in weit zurückliegenden Generationen, auf dem Weg über eine außereheliche Abkunft vom Landgrafen Philipp von Hessen, dem polygamen Beschützer Luthers, eine Anzahl Glorien des deutschen Hochmittelalters. Den aber, der Anhäufung von Genies in der genealogischen Umwelt eines anderen Genius zu sehen hofft, wird die Konsaguinität Goethes schwer enttäuschen. Es gibt in ihr eine Menge verdienter hoher Beamter, tüchtiger Gelehrter, angesehener Rechtsanwälte, erfolggekrönter l&ugeuteD.pch die oberste Stufe bilden ungefähr die Schauspielerfamilie Schröder-Devrient, die Chemikerdynastie Fresenius, das an deutschen Universitäten rühmlich wirkende Freiherrngeschlecht der Dungern, der die Grenze der Genialität streifende Denker und Naturforscher Edgar Dacque, die neirencn, rNicoiovius und Andrea, die belehrten und Verleger Lehmann. Anverwandte Goethes siedeln in allen Erdteilen. In Honolulu und in Punta, Arenas, in Luanda und Detroit, in Orel und auf den Balearen, in Bordeaux und in Chihuamia. Besonders hoch hinauf gelangen wir bei ihnen in Frankreich (Fürsten von Polignac) und in Ungarn (Grafen Teleki, Barone Wesselenyi).

Ein Zweig der Goethe hat sich nach Österreich gewandt, wo es eines seiner Mitglieder bis zum Sektionschef brachte, andere in kleinen Verhältnissen lebten. Der Urstamm ist noch, als Bauern, in Berke bei Sondershausen, lange seßhaft geblieben. Einer vom Ast, der nach Österreich hinüberreichte, hat durch eine nicht alltägliche Besonderheit Noto-rietät erworben. Es ist der Pastor Rudolph Goethe, in kinderloser Ehe mit einer Gräfin Bülow vermählt, der nach seinem Übertritt zum Katholizismus Priester wurde und von Pius XII. die Erlaubnis bekam, mit seiner Gattin die Ehegemeinschaft fortzusetzen. Den Historiker wird freilich derlei weniger beschäftigen als die vorerwähnten sozialgeschichtlichen und für die Einschätzung des Problems „Große Männer“ im Geschichtsablauf kapitalen Ergebnisse. Er wird sich ferner mit der Zuverlässigkeit der Daten und Filiationen, mit der Art, mit der Ausschöpfung, mit dem Umfang und mit der Vollständigkeit des Quellenmaterials befassen. Rösch hat in erster Linie die Akten der Standesämter, der Pfarren und der Familienarchive benutzt. Das, was er auf diese Weise ermittelt hat, ist fast ausnahmslos als urkundlicher Beleg anzusprechen, obzwar die einzelnen Tatsachen aus leicht begreiflichen Gründen — das Werk hätte sonst einen untragbaren Umfang angenommen und unaufbringbare Druckkosten mit sich gebracht — nicht durch Angabe der jeweiligen Sonderquelle erhärtet werden. Stichproben haben die Zuverlässigkeit des Autors dargetan. Darum dürften wir ihm auch dort vertrauen, wo er offenbar nicht mehr auf Urkunden oder öffentlich-rechtlich anerkannten Akten fußt, sondern auf Familienchroniken und auf Mitteilungen der Familienangehörigen. Des weiteren sind die üblichen Almanache des deutschen Adels und der Bürgergeschlechter, die großen biographischen Lexika, der beiden „Kürschner“ und „Wer ist's?“ verwertet. Lücken treten zumeist dort auf, wo Rösch auf Korrespondenz und Nachfrage außerhalb des deutschen Sprachraums angewiesen war und keine oder unzureichende Antwort erhielt. Das betrifft ebenso die in Amerika verschwundenen Goethe-Verwandten wie Franzosen wie endlich neuerdings die hinter dem Eisernen Vorhang Untergetauchten.

Unsere kleinen Vorbehalte hier wie zu jedem ähnlichen Werk, welche beliebig auszudehnen wären, sollen nichts an der aufrichtigen, ja bewundernden Anerkennung ändern, die wir ihi.i, auch von der Warte des Historikers aus, spenden.

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