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Die Bahnhoffrage, eine Lebensfrage für Wien

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Zum gleichen Thema brachte die „Furche“ vom 17. März 1951 einen Offenen Brief des Verfassers an Bundesminister Ing. Waldbrunner, der aber nie beantwortet wurde. „Die Furche“

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Zum gleichen Thema brachte die „Furche“ vom 17. März 1951 einen Offenen Brief des Verfassers an Bundesminister Ing. Waldbrunner, der aber nie beantwortet wurde. „Die Furche“

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, Eine Stadt soll kein Gemenge von Häusern und Straßen sein, sondern ein Ganzes, ein lebendiger Organismus, in dem jeder Teil bestimmte Aufgaben erfüllt. Vom harmonischen Aufbau hängt die Lebensfähigkeit der Stadt und aller Bewohner ab. Wien entwickelte ich bis zum Biedermeier halbwegs harmonisch. Erst die Zinskasernenzeit brachte schwerste Disharmonien. Heute bestehen fast 80 Prozent aller Wiener Wohnungen aus Zimmer und Küche ohne Licht, Luft, Bad, Garten. Kein Wunder, daß der Kindersegen usbleibt und die Wiener am Aussterben sind.

Eine Wende ist nur durch Neubau von Gartensiedlungen im Flachbau auf billigem Boden, das heißt außerhalb des Häusermeeres möglich. Gartensiedlungen können wir nur errichten, wenn Schnellbahnen von den Arbeitsstätten in den inneren Bezirken bis in die Ebenen im Norden, Osten und Süden führen. Der Westen fällt als Erholungsgebiet aus. Der Ausbau der Schnellbahnen ist nur wirtschaftlich möglich, wenn ein Teil der überflüssig vielen Fernbahngeleise dafür freigegeben wird. Der Angelpunkt einer solchen vernünftigen Teilung Von Fern- und Nahverkehr ist der Raum des Süd- und Ostbahnhofes und der anschließende Wiedner Gürtel.

Wird dieser Raum jetzt ohne Rücksicht auf die künftige Entwicklung der ganzen Stadt verbaut, dann müssen wir die Hoffnung auf ein Schnellbahnnetz und auf Gartensiedlungen wieder auf längere Zeit begraben.

Skizze 1 zeigt den gegenwärtigen Zustand, Skizze 2 das im Ausbau begriffene Projekt für einen neuen „Südbahnhof“, der in Wirklichkeit ein Doppelkopfbahnhof ist und besser auch weiterhin „Südostbahnhof“ heißen sollte, ■wie schon seit 1951. Wir glauben, daß dieser komplizierte Bau mit Verkehrsanlagen in drei Stockwerken nicht notwendig is, vielmehr eine Gefahr für die Zukunft Wiens bedeutet, weil er eine städtebauliche Gesundung verhindert.

Aus dem Ostbahnhof (Skizze 3) führen schon heute Geleise über Pottendorf nach Wiener Neustadt. Man kann den ganzen Fernverkehr auf diese Geleise legen und dafür die Südbahn über Baden nach Wiener Neustadt ganz dem Nahverkehr überlassen. Wer etwa von Baden nach den entfernteren Süden fährt, wird eben in Wiener Neustadt umsteigen. Diese Trennung von Fern- und Nahverkehr, in anderen Städten längst üblich, würde eine Kettenreaktion von günstigen Möglichkeiten auslösen:

1. Man kann einen neuen „Ostbahnhof“ auf dem Boden des alten vollkommen übersichtlich ohne den geringsten Niveauunterschied anlegen. Hebt man das Straßenniveau vom Gürtel her bis zu den Bahnsteigen, so kann der Reisende vom Zug zur Straßenbahn gehen, ohne eine einzige Stufe steigen oder eine Rolltreppe betreten zu müssen, was für Leute mit Gepäck und Kindern, für Greise und die Landbevölkerung immer Schwierigkeiten bedeutet. Legt man das Ankunftgeleise außen, dann braucht man nur einen Bahnsteig von der Reihe der Waggons zur Reihe der Taxi zu überqueren. Diese Möglichkeit hat man am Westbahnhof leider verbaut. Dort wurde auch die anderswo längst übliche Trennung von Personen- und Gepäckbahnsteigen versäumt, mit dem Erfolg der ständigen Gefährdung der Reisenden durch die Elektrokarren.

2. Die neue Schnellbahn Wiener Neustadt —Baden—Meidling kann auf dem Geleise der Verbindungsbahn über di- bestehende Rampe und den Tunnel nahe Südtirolftr Platz unschwer bis zu einer Haltestelle quer unter der Halle des neuen Ostbahnhofes geleitet werden. Von dort ist nur eine kurze Einschnittstrecke notwendig, um wieder die bestehenden Schienen ier Verbindungsbahn über Rennweg, Hauptzollamt und Nordbahn-, hof nach Floridsdorf zu erreichen, die die Fernbahn schon seit 1945 entbehren kann. Vom Stadtbahngeleise bis zum Fernbahngeleise muß man im neuen Westbahnhöf 85 Stufen steigen, im neuen Ostbahnhof brauchte man höchstens 30 Stufen und daneben eine Rolltreppe.

3. Wird die Gürtellinie gemäß den bestehenden amtlichen Projekten von der Gumpendörfer Straße bis zum Matzleinsdorfer

Platz und von Heiligenstadt bis Floridsdorf verlängert, dann ergibt sich auch die notwendige schnelle Verbindung zwischen dem neuen Ost- und Westbahnhof und die zweite Verbindung zum Entwicklungsraum der Stadt am nördlichen Donauufer. Von Floridsdorf ist wieder die bestehende Linie Stammersdorf—Enzesfeld leicht anzuschließen und andere Geleise führen nach dem zur Anlage eines Zentralflughafens bestgeeigneten Gelände von Gerasdorf.

4. Werden Nah- und Fernverkehr im neuen Ostbahnhof in nur zwei Stockwerken geordnet, so ergibt sich daraus eine sehr übersichtliche, international übliche Anlage. Der Zu- und Abstrom der Reisenden geht klaglos vonstatten, niemand kann sich so verirren wie in dem geplanten Labyrinth des „Südbahnhofes“. Die Verlängerungen der beiden Kopfgeleise werden unnötig, der Ghegaplatz bleibt frei, alle innerstädtischen Verkehrsmittel können rund um den Bahnhof allseits frei zirkulieren und bleiben dabei doch vom bahnfremden Durchzugsverkehr der Gürtelstraße getrennt. Die Taxistandplätze kommen hinter den Bahnhof zu liegen.

5. Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude des alten Südbahnhofes wird für die Bahn entbehrlich und kann an andere Interessenten verkauft werden (Sporthalle, Markthalle). Legt man den Naschmarkt in diesen Raum, eine städtebaulich sehr günstige Lage mit Gleisanschluß vom Güterbahnhof Ost und Autozufahrten aus dem fruchtbaren Hinterland von Wien, dann wird dadurch das jetzige Naschmarkteelände für die längst notwendige Wientalstraße frei.

6. Zunächst kann der Südbahndamm bis Südtiroler Platz abgetragen werden, später könnte aber die ganze Schnellbahn bis zur Philadelphiabrücke, in einen Einschnitt verlegt werden. Dadurch wird an der Außenseite des Gürtels Platz für Neubauten und Grünflächen, die Verkehrsknoten am Südtiroler und Matzleinsdorfer Platz werden aufgelöst, Favoriten ist nicht mehr ein Stadtviertel „hinter dem Bahnhof“, der Straßenverkehr kann auf vielen neuen Wegen über den Wienerberg in das Siedlungsneuland im Süden fließen.

7. Bezieht man endlich die heute unbenutzten Schienen Meidling—Inzersdorf— Achau in das Schnellbahnnetz ein, so wird dadurch das „Leere Dreieck“ zwischen Lie-sing, Schweehat und Laxenburg erreichbar, das beste Gelände für Gartensiedlungen der Zukunft, die Wiege des künftigen Wiener-tums.

8. Haben Schnellbahn und Vollbahn später gleiche Spurweite und gleiche Stromart, dann könnten wir am Wochenende endlich wieder von den Innenbezirken ohne Umsteigen bis Puchberg,. Gutenstein, Hainfeld, Kaltenleutgeben und Türnitz fahren, welche Möglichkeit noch bis 1922 bestand.

Alle diese Möglichkeiten werden verrammelt, wenn jetzt der Doppelkopfbahnhof ohne Rücksicht auf ein künftiges Schnellbahnnetz und auf die Existenzfrage Wiens gebaut wird. Was eine solche Verkalkung im Bereich des Herzens für einen Organismus bedeutet, wissen heute nicht nur die Aerzte. Das Wesentliche an einem Bahnhof ist nicht Höhe, Material und Beleuchtung der Fassaden, sondern der wohlgeordnete, rasche und bequeme Fluß der Verkehrsströme, dieses Blutes der Stadt. Werden diese Ströme hier gedrosselt, so erdrosselt man damit vom Herz aus langsam die ganze Stadt.

Der Krebsschaden ist die mangelnde Zusammenarbeit der vielen zuständigen Ressorts von Staat und Stadt, die Uebermacht der Politiker und Juristen über die Techniker. Das gilt heute leider für jedes Ingenieurproblem in Oesterreich.

Jede Planung muß das Ziel haben, lles Lebendige zum Gedeihen zu bringen. Eine Ressortplanung mit Scheuklappen gegenüber allen anderen Ressorts hat sich nachträglich noch immer als Fehlplanung erwiesen. Selbst wenn der Doppelkopfbahnhof wesentlich billiger sein sollte als eine bessere Lösung, wird das Geld doch letzten Endes für ein abträgliches Objekt verwendet. Fruchtbarkeit geht vor Rentabilität, das sollte man unseren Budgetmachern täglich einhämmern.

Wir bitten deshalb nochmals um Revision des in Angriff genommenen Baues. Ist im Augenblick wegen Geldmangels oder aus Prestigegründen wirklich keine bessere Lösung ausführbar, dann sollte wenigstens in das Kellergeschoß des neuen E m p f a n g s g e b ä u d e s die notwendige Station für eine künftige Schnellbahn eingebaut werden. Dann können wir ohne große Umbauten später noch alles zum Besseren wenden.

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