Auf der Suche nachder verlorenen Seele

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Wird die menschliche Seele in der Medizin zum "Restposten"? Ein Grazer Symposium begab sich auf die Suche nach der "Ganzheit" des Menschen.

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Wird die menschliche Seele in der Medizin zum "Restposten"? Ein Grazer Symposium begab sich auf die Suche nach der "Ganzheit" des Menschen.

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Götter in Weiß reparieren einen defekten Körper, ersetzen Original- durch Reserveteile und modeln bei Bedarf auch schnell den Schaltplan um. Gegen dieses Szenario einer seelenlosen Medizin ist nur ein Kraut gewachsen: Widerstand. Und an diesem Widerstand des Menschen zeigt sich nichts geringeres als seine Menschlichkeit.

Starke Worte aus dem Mund des Darmstädter Philosophieprofessors Gernot Böhme - wecken doch jene Techniken, denen widerstanden werden soll, große Hoffnungen: Organtransplantation, Reproduktions- und Gentechnik ermöglichen bisher Ungeahntes. Und doch gilt es ihnen abzuschwören, um Mensch zu bleiben? Die provokanten Thesen Böhmes reizen zum Weiterfragen: Wenn eine Herztransplantation den eigenen Körper manipuliert, was ist dann von einem Hörgerät zu halten? Oder von künstlichen Herzklappen? Wieviel kann man transplantieren, um noch vom eigenen Leib sprechen zu können? Wo verläuft also die Grenze zwischen medizinischem Segen und ethischer Bedenklichkeit?

Grenzen setzen Das Symposium "Restposten Seele?" im Grazer Kulturzentrum der Minoriten zeigte vor allem eines: An der Seele des Menschen, an dem, was ihn ausmacht oder nicht mehr ausmacht, scheiden sich die Geister. Der Philosoph Böhme zieht für sich klare Grenzen: "Ich persönlich würde eine Herztransplantation ablehnen. Doch jeder muss in seinem Leben selbst eine Grenze setzen, um seine Menschenwürde zu bewahren und sich vor Manipulation zu schützen." Jeder Eingriff in die Leib-Seele-Einheit Mensch habe Folgen. "Niemand fragt etwa Menschen mit einem Herzschrittmacher, wie sie sich dabei fühlen! Frisch verliebt gibt es für sie nicht einmal Herzklopfen."

Doch "Neinsagen", und das weiß Böhme, ist keine Kleinigkeit. Dazu gehört die Bereitschaft, auch einmal etwas zuzulassen. "Humanität zeigt sich dort, wo man sich nicht dem Projekt grenzenloser Modernität anheim gibt." Die Technik sei mehr als ein Mittel zum Zweck geworden. Menschliche Ziele würden sich immer mehr nach ihr orientieren. Und mehr noch, analysiert Böhme: "Was früher eine Frage der Moral war, wird nun ein Mittel der Manipulation. Die Sexualmoral ist geschwunden, weil man diesen Bereich technisch beherrschen kann."

Am Beispiel des Internetzugangs spricht der Philosoph von den "Technostrukturen" der Gesellschaft: "Ob der Einzelne zur Gesellschaft gehört, hängt mehr und mehr von seiner technischen Ausrüstung ab, meist davon, ob er einen Anschluss ans Netz besitzt oder nicht." Auch das Verhältnis der Menschen untereinander habe sich durch die technische Infrastruktur verändert - und nicht immer zum Besten, glaubt Böhme. So habe das Mobiltelefon dazu geführt, dass heute persönliche Treffen beliebig seien. "Noch an der Türschwelle kann ich's mir anders überlegen." Die neue Distanz in der Kommunikation beginne jedoch schon beim Ungeborenen im Mutterleib: Wenn schwangere Frauen ihre Beziehung zum Kind eher über Bild und Ton erleben als durch das eigentliche Spüren.

Fazit des Philosophen: Die Verweigerung technischer Manipulation kann den Menschen tatsächlich weiterbringen. Denn "die Erfahrung zeigt, dass sich eben nicht das Vernünftige durchsetzt".

Wie mancherorts die Vernunft in der Technik, so hat die ganzheitliche Sicht des Menschen in der Medizin ihr Ende gefunden. Dies befürchtet zumindest der Theologe und Mediziner Matthias Beck und durchwandert zum besseren Verständnis die Philosophiegeschichte. Nach dem Dualismus von Leib und Seele bei Platon und dem Bruch zwischen Geist und Seele bei Aristoteles sei Thomas von Aquin "der einzige in der abendländischen Philosophie, der die Einheit von Leib und Seele denken konnte". Beim mittelalterlichen Kirchenvater habe "Seele" nicht einfach Geist bedeutet, sondern "das, was den Menschen zum Menschen macht." Damit war spätestens bei den modernen Naturwissenschaften Schluss: "Mit dem Beginn der Neuzeit stürzte man sich auf die Materie, einfach, weil sie als einzige messbar war. Die Philosophie dagegen befasste sich mit dem Geist, doch nur unter dem Aspekt des Bewusstseins."

Spätestens in der Aufklärung kam demnach die Seele unter die (naturwissenschaftlichen) Räder und wurde auf das Religiöse zurechtgewiesen. Dies verdeutlicht auch der Vorwurf eines Zeitgenossen an den Aufklärungsphilosophen Descartes, dieser habe in seiner Vorstellung vom Menschen "die Seele nur um der Pfaffen willen hinzugefügt".

Freud schließlich förderte das "Unbewusste" zu Tage. Seine Erkenntnisse prägen bis heute die psychosomatische Medizin. Doch Beck relativiert auch hier: "Die psychosomatische Medizin ist keine Ganzheitsmedizin. Es bleibt immer noch ein Dualismus vorhanden, denn sie denkt von außen nach innen, vom Körper zur Seele." Bei Becks Maß aller Dinge in Sachen Ganzheit, Thomas von Aquin, wurde der Mensch dagegen von innen nach außen gedacht und von seiner "Geistseele" aus interpretiert.

Der Anspruch Becks ist hoch - und liegt auch nicht im Trend: "Wir brauchen eine neue Medizinausrichtung. Nicht wie bisher das Denken: Wenn das Herz kaputt ist, tausche ich es aus. Auch das Herumschnipseln in den Genen reicht nicht. Das Welt- und Menschenbild ist hier zu kurz."

Besonders heikel sei die Frage der pränatalen Diagnostik bei schwangeren Frauen: "Wenn ein Gendefekt festgestellt wird, werden die Embryos in den Ausguss geworfen. Doch nicht jeder Defekt kommt zum Ausbruch. Oft handelt es sich nur um einen gewissen Risikofaktor, mit dem es zu leben gilt."

Ganzheitlicher Blick Die Folgen dieses eingeschränkten Menschenbildes in der Medizin würden nach Beck irgendwann auch nüchternen Kalkulierern einsichtig: spätestens beim Bankrott des Gesundheitssystem. Um dem vorzubeugen fordert er eine neue Gesundheitserziehung in den Schulen. Mehr Selbstverantwortung sei gefragt, denn mit der gängigen Einstellung "Krankheit ist das, was der Arzt reparieren soll" sei die Medizin schlichtweg überfordert.

Einen neuen Aspekt in Sachen Ganzheitsmedizin bringt die Psycho-Neuro-Immunologie ins Spiel: Sie weiß um die Wichtigkeit des Immunsystems für die Gesundheit und spricht von ihr als "Seele" des Organismus. Reagiert dieses bei Infektionen und Krebs zu schwach oder bei Allergien zu heftig, so ist bei der Immunschwächekrankheit "Aids" die "Seele" selbst angegriffen. Hier leuchtet schon auf, was Beck als Ziel anvisiert: Interdisziplinäre Forschung mit einer gemeinsamen Basis - dem Menschen als Einheit von Leib, Seele und Geist.

Von einer solchen ganzheitlichen Interpretation sind die Naturwissenschaften meist weit entfernt, betont auch Hans-Walter Ruckenbauer, Assistent am Institut für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät Graz. "Seelenlos" und eng würden Medizin und Biologie oft ein Bild vom "Lebewesen als Maschine" zeichnen. Als Beispiele für diese reduzierte Sichtweise nennt Ruckenbauer den "IQ" zur Messung der Intelligenz, den Glauben an Statistik und "Normalverteilung" und schließlich die Fixierung auf den Gen-Code des Menschen. Auch sprachlich würden Menschen reduziert: "Man spricht dann nicht mehr von einem schlechten Menschen, sondern von einem ,kranken Hirn'."

Der ganzheitliche Blick in Medizin und Technik ist demnach ordentlich getrübt. Als kreativ erweist sich hingegen die Frage nach dem "Sitz der Seele". Wo ist sie zu verorten: im Atem, im Herzen, gar im Zwerchfell? Oder - wie in anderen Kulturen - in der Leber, Niere oder den Genitalien? Rudolf zur Lippe, Professor für Ästhetik an der Universität Oldenburg, vermutet die Seele anderswo und spart bei seiner Schilderung nicht mit Phantasie: "Sie sitzt nicht, sie steht wohl eher im Durchzug zwischen den Türen oder sie ist dieser Durchzug. Sie schafft es, ein Ganzes zu schaffen, das mehr ist als die Summe seiner Teile."

Zur Lippe versteht die Seele nicht als starre Instanz, sondern als Wechselspiel. "Sie ist zusammengesetzt aus zwei Energieformen: dem Willen und dem Verstand." Seele, das bedeute Spannung zwischen Ich und Du, zwischen Ich und Ich und zwischen Ich und Wir. Sie vermittle zwischen Polen, zwischen Vergangenheit (Erinnerung) und Zukunft (Entwurf), doch ihr Elixier sei die Aufmerksamkeit in der Gegenwart. "Spiel der Seele" nennt er diesen Austausch.

Doch die Sehnsucht nach Ganzheit kann - in einer Welt voll Widersprüchen - selbst krank machen. Dies zeigt zur Lippe am Beispiel Schizophrenie: "Sie ist Ausdruck dafür, eine Ganzheit der Welt herstellen zu wollen, die diese Welt aber nicht zulässt. Schizophrenie kann in diesem Sinn als Zivilisationskrankheit verstanden werden." In manchen anderen Kulturen würden Schizophrene auch nicht zwingend als Geisteskranke verstanden.

Was Seele tatsächlich bedeutet und wo sie beheimatet ist, bleibt also ungewiss und fraglich wie die Wahrheit selbst. Und so schließt der Adorno-Schüler Rudolf zur Lippe mit einem tiefgründigen Satz und einem ebensolchen Lächeln: "Es geht schließlich bei der Wahrheit nicht darum, sie zu haben, sondern sich um sie zu bemühen."

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