Ein russischer Jude sieht WienTitel

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Vladmir Vertlieb macht in seinem Roman "Zwischenstationen" die Leser zu Zeitzeugen - unser Dank sollte ihm sicher sein.

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Vladmir Vertlieb macht in seinem Roman "Zwischenstationen" die Leser zu Zeitzeugen - unser Dank sollte ihm sicher sein.

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Vladimir Vertlieb stößt Fenster auf zu Wohnungen, Bewohnern und deren Geschichten, von denen wir wissen, daß es sie gibt, die jedoch nicht wahrgenommen und höchstens mit pauschalierenden Begriffen bedacht werden.

Wir kennen die Fenster, wir gehen oft daran vorbei, wir sehen natürlich auch die Bewohner, die zu den Wohnungen mit diesen Fenstern gehören, doch mehr wissen wir oft nicht über jene, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, die hier arbeiten, aber längst nicht mehr nur Gäste sind, da bereits ihre Kinder und Enkel hier leben. Wir sehen sie, aber in den seltensten Fällen kennen wir sie. Um wieviel fremder sind uns erst jene, die wir oft nicht einmal zu Gesicht bekommen, die hier Asyl gefunden haben, die illegal eingewandert sind.

Der tiefe Blick eines Zugewanderten, der auf seiner Reise nach Österreich viele Zwischenstationen einlegen mußte, läßt uns diese unsere nähere Umgebung mit anderen Augen betrachten. Die Brigittenau, das Allgemeine Krankenhaus, den Augarten, den Flughafen Schwechat dürfen wir nun mit einem anderen, zeitgenössischen literarischen Blick wahrnehmen. Die Leserin und der Leser fühlen sich dadurch unwillkürlich in die Rolle von Zeitzeugen versetzt, die durch diese Lektüre jedoch keineswegs Zeugen von spektakulären Vorfällen werden, sondern den verdrängten und oft auch gar nicht wahrnehmbaren Alltag der Flüchtlinge miterleben können. Dafür ist dem Autor zu danken, denn diese Zeitzeugenschaft ist auch mit Vergnügen verbunden - für jeden, dessen Neugierde auf Menschen und Geschichten noch nicht erloschen ist.

Vladimir Vertlieb schildert die Reisen seiner Eltern, die aus der Sowjetunion emigrieren konnten und auf der Suche nach Heimat sind, mit dem Blick eines kleinen Jungen, der von den Ortswechseln oft überrumpelt wird, sich von den Freunden nicht verabschieden kann, liebgewonnene Dinge zurücklassen muß, der nicht mehr weiß, wo er sich tatsächlich befindet. "Ich dachte manchmal, ich sei in Israel, dann wieder, ich sei in Rußland, bis ich verstand, daß beides stimmte. Das Haus war ein Teil Israels und Rußlands, das sich in einer fremden Welt namens Wien befand. Keine Frage: die Welt war wie eine Anzahl von Schachteln aufgebaut, die ineinanderpaßten." Wieder einmal ist es der Blick eines Kindes, der die Welt aus einer anderen Perspektive erfahrbar macht. Die kindliche Naivität läßt viele Probleme kleinlich erscheinen und erlaubt es gleichzeitig, Urteile zu gesellschaftlichen und politischen Fragen zu treffen, über die es sonst langer differenzierter Abhandlungen bedürfte, um eine Position einnehmen zu können. Das Urteil des Jungen ist kein Fixum, sondern nur eine Variante der Wahrheit, der Wirklichkeit, und dies ist der große Vorteil dieser Erzählposition.

Die Perspektive des Kindes wird immer wieder von Schriftstellern als Möglichkeit gesehen, um die Welt durch die Brille der Naivität umso schärfer zeichnen zu können. Oskar Matzerath in Günter Grass' "Blechtrommel" war einer der Vorreiter dieser Weltsicht. Der israelische Autor David Grossmann und der Südafrikaner J.M. Cotzee sind ebenfalls - im übertragenen Sinn - in die Knie gegangen, um zwei aktuelle Beispiele dieses Perspektivenwechsels zu nennen.

Der junge Vertlieb lernt nicht so schnell Hebräisch wie sein Freund Viktor, dieses Manko wird von der Lehrerin als Verweigerung, als Provokation angesehen. "Ich kannte das Wort Provokation nicht, doch es gefiel mir. Wenn mich jemand von den Erwachsenen fragte, wie es mir gehe, antworte ich oft stolz: Es geht mir gut. Ich bin eine Provokation." Die Frage der Integration der russischen Juden in Israel, die Bewertung Israels als Zufluchtsort der Juden, das sind zwei jener heiklen Fragen, die Vertlieb anschneidet: "Außerdem habe ich der Idee des Zionismus nie etwas abgewinnen können. Zu viele Juden auf einem Fleck. Für mich sind die Juden das Salz der Erde. Salz allein ist ungenießbar."

Dazu kommt noch zum Beispiel die Rolle des Vaters, dem pauschalierende Urteile leicht über die Lippen kommen und der in jedem Österreicher immer gleich auch den faschistischen Schatten wahrzunehmen glaubt. Im Fall der alten Frau Berger, die auf Vladimir aufpaßt, ihm ein Zigarettenetui mit den eingravierten Grenzen des "Großdeutschen Reiches" schenkt, liegt er sicherlich nicht so falsch: "Nur das mit den Juden war natürlich ein Fehler. Mit einem so mächtigen Volk darf man sich's nicht verscherzen. Die Juden waren es dann auch, die die bösen Mächte gegen uns mobilisiert haben," meint Frau Berger. Vladimir liebt sie trotzdem, weil sie zumindest Zeit für ihn hat.

Der kritische Blick schließt auch die eigene Familie nicht aus: "Und auch wir Kinder wußten, daß man mit Vätern manches besprechen konnte, aber nie um etwas so Banales bitten durfte, wie uns ein Mittagessen zuzubereiten. Väter hatten Gewichtigeres zu tun, Entscheidungen zu treffen oder über grundsätzliche Fragen zu diskutieren, die Zukunft Rußlands zum Beispiel oder die israelische Innenpolitik".

Die einzelnen Kapitel beginnen so unvermittelt wie der Ortswechsel für den Jungen, und es braucht oft einige Seiten, bis wir uns geographisch zurechtfinden. Sind wir in den Niederlanden, in Israel oder in Amerika? Die Schilderungen des jeweiligen Milieus und der informellen Informationskanäle, die auch vor Grenzen nicht halt machen, aber auch des Abbruchshauses in der Brigittenau, wo die "Russen" Zuflucht finden, gelingt Vertlieb derart lebendig und anschaulich, daß sich fast auch der Geruch der Gemäuer und der Wohnungen einstellt.

Das Leben der Familie Vertlieb ist ein Leben zwischen Konsulaten, Abbruchhäusern, Illusionen und falschen Hoffnungen, ein Leben, das immer wieder bei Null begonnen werden muß und wo bereits die Möglichkeit, in einer amerikanischen Bücherei eingeschrieben zu werden und Bücher entlehnen zu dürfen, zu einem Akt wird, der Widersetzlichkeiten erfordert und den Bruch von Gesetzen bedingt, denn nur Personen, die über eine Sozialversicherungsnummer verfügen, bekommen einen Entlehnausweis. Die Schilderung des jüdischen Viertels in Brooklyn hat beim Rezensenten ein ebenso anschauliches Bild hinterlassen wie die Aufenthalte in Israel und der spontane Überfall von Kindern auf einen arabischen Mann, den einzigen, den sie kennen, nachdem Terroristen einen Sprengstoffanschlag auf einen israelischen Bus verübt haben. Ein Beispiel, wie Politik funktioniert. Bei Kindern sind derartige reflexhafte Handlungen vielleicht noch zu verstehen, aber bei Erwachsenen ...

Wir können froh sein, daß Vladimir Vertlieb letztlich doch in Österreich geblieben ist und so auch zu einem Sprachrohr geworden ist für Tausende durchreisende russische Juden auf dem Weg nach Israel, für deren Kultur und deren Hoffnungen und deren Mißverständnisse.

Der Blick des Autors durch die Fenster, der immer auch die zufällig Vorbeigehenden anvisiert, läßt die Frage reifen: Wie würden wir in den vielen ungeschrieben Romanen jener, die hier längst nicht mehr Gäste sind, erscheinen? Als unverständige, bemühte, bornierte oder mit Scheuklappen versehene Passanten? Literatur wird so zu einem ständig präsenten Taschenspiegel. Was kann man mehr verlangen?

Zwischenstationen Roman von Vladimir Vertlib.

Deuticke Verlag, Wien 1999 292 Seiten, geb. öS 248,- /e 18,02

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