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Die Shylock-Politik der Westmachte

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Wir müssen Taylor auch dafür dankbar sein, daß er die maßlosen Ansprüche der deutschen Herrscherhäuser vor und nach dem Unsinnsfrieden von Brest-Litowsk ans Licht bringt, die sich aus den Stücken des russischen Scheinkadavers prachtvolle größere und kleinere Monarchien herausschneiden wollten, dabei nur der Entente die wirkungsvollste Propaganda gegen jeden Verständigungsfrieden in die Hände spielten. Bedauerlich bleibt auf der anderen Seite, daß der Verfasser der österreichischen Situation wiederum nicht voll gerecht wird: Die Meisterbiographie Conrads von Oskar Regele (Herold-Verlag) ist in der Bibliographie nicht erwähnt, obwohl Taylor aus ihr hätte lernen können, daß nicht nur das k. u. k. Heer unter Desertionen und Überläufern zum Feinde litt: ganze elsässische Truppenteile hatten sich aus der deutschen Armee losgelöst, und die Mittelmächte ihrerseits empfingen auch Uberläufer der Entente.

Überraschend gut und präzis ist das Bild, das Taylor von den Romanoffs und der letzten Zarenfamilie entwirft: es muß dem anglo-amerikanischen Autor hoch angerechnet werden, daß er — im Gegensatz zu den übrigen Historikern des Westens — in Rasputin nicht einen Teufel sieht, sondern einen etwas sonderbaren Heiligen von gigantischer Sexualität und ausgestattet mit einem überraschenden finanziellen Spürsinn. Im Grunde genommen vertritt der „Staretz“ am Hofe des schwächlichen „Selbstherrschers“ das — Volk, den „Muschik“.

Wir können sehen, wie sehr das Bildnis Rasputins, dessen Stimme sogar auf den schwer leidenden kleinen Zarewitsch schmerzlindernd wirkte, in den auf Fortsetzung des Krieges bedachten westlichen Demokratien angeschwärzt wurde: Im Grunde trat der „Staretz“ für Dinge ein, die im Interesse des Volkes und der Humanität lagen! Vor allem wünschte er einen raschen Friedensschluß, hatte aber sofort nach seiner Einführung in die Zarenfamilie, lange vor Ausbruch des Krieges, gegen die Judenprogrome und die verheerenden Wirkungen der antisemitischen Politik Stellung genommen.

Mit rücksichtsloser Offenheit schildert Taylor die Shylock-Politik der Westmächte: unausgesetzt beharrt Paris — und nicht weniger hart übrigens das verbündete London — auf Einlösung der an Rußland gewährten finanziellen und waffentechnischen Unterstützungen. Wann immer die westlichen Allier-ten es wünschen, greifen die Russen unter furchtbaren Blutopfern an,und das Schuldnergefühl der russischen Regierungen bis einschließlich Kerenski verursacht beispiellose Aderlässe am russischen Volkskörper, während die Armee bereits in den ersten Kriegswochen ihre besten Offiziere verliert. Nach Ansicht Taylors haben die Westmächte keine Ursache, die russischen Militärschulden als unbeglichen anzusehen, und die Nichtanerkennung derselben durch Lenin und seine Gehilfen scheint dem Verfasser wohlbegründet, während sie der Proletarierdiktatur im Volke wichtige Sympathien sicherte.

Die Tragödie des Hauses Romanoff-Holstein-Gottorp — denn die Nachkommen Katharinas II. waren sicherlich keine reinblütigen der Romanoffs und nur fragliche ihres Gatten Peters von Holstein —, liegt unter anderem darin, daß es zum Schluß von einer seiner schwächsten und ungebildetsten Fürsten geleitet wurde, dem es allerdings — ähnlich wie Ludwig XVI. — weder an Würde noch an Mut gebrach.

Die Ursache zum Falle der türkischen Monarchie sieht Taylor in einem Umstand, an den wir Abendländer am wenigsten denken, wenn wir uns die Vorschriften des Islams vor Augen halten: in der Weiberherrschaft, in der psychologischen Macht des Harems! Nach Ansicht des Verfassers waren die Sultane — Abdul Hamid II. nennt er den letzten großen, jedenfalls seine Brüder und Nachfolger geistig überragenden — erst gleichsam die Kinder des Harems, später als seine Herren tatsächlich ihm unterworfen und physisch derart geschwächt, daß sich diese lustvoll verspielten Greise zu keinen politischen Taten aufraffen konnten. Die „glücklichen“ Padischah lieferten das Schulbeispiel für umgekehrte Freudsche und angewandte Nietzsche-Theorien: sie durften ihre „Libido“ voll ausleben, Hemmungen gab es für sie nicht, vier legitime Frauen und Hunderte von Konkubinen standen jedem Großherrn zur Verfügung, der bis zur Erlangung der Mannesreife von der Mutter bis ins letzte verzärtelt worden war.

Taylor hat Sympathie für Tragödie, und Sinn für Tragödie findet er bei den Habsburgern. Seine ganze Zuneigung gehört uneingeschränkt Karl und Zita von Österreich, deren unausgesetzte Arbeit für die Herbeiführung eines vernünftigen und baldigen Verständigungsfriedens er aufrichtig bewundert und eingehend schildert. Wiederum nicht ohne historische Ungenauigkeiten: Franz Joseph wurde 1867 in Budapest prunkvoll gekrönt (das Gegenteil auf Seite 342 behauptet), allerdings erst nach dem „Ausgleich“. Nach Ansicht des Rezensenten begeht aber Taylor zwei ernsthaftere Fehler: Vor allem überschätzt er den „Skandal“ des „Sixtus-Briefes“, der eigentlich durch Czerntns Ungeschicklichkeit solche Ausmaße annahm, während ein gewiegterer Außenminister die Friedensliebe des österreichischen Kaiserpares gegenüber dem tobenden Clemenceau vor der kriegsmüden Weltöffentlichkeit hätte ausnützen können; der zweite Fehler liegt in dem retrospektiven, gleichsam Ei-post-Standpunkt des Verfassers, der ab Seite 344 alle subversiven Beden, Tendenzen, Handlungen Innerhalb des Habsburgerreiches sozusagen unterstreichend hervorhebt, dem Beschwichtigungstelegramm Kaiser Karls an Wilhelm II. eine Art apokalyptischen Schuldverstrickungsbekenntnisses zuurteilt und die unzähligen anderen Phänomene übersieht, die auch noch im letzten Kriegsjahr an das Weiterbestehen einer zwar umgebauten, aber zusammenhaltenden Donaumonarchie glauben ließen.

Doch muß man dem Verfasser wieder uneingeschränktes Lob dafür spenden, daß er den ganzen idealistischen Wahnwitz der 14 Punkte darstellt, diesen hoffnungslosen Versuch eines hoffnungsvollen amerikanischen Professors, Europa eine Idealdemokratie zu lehren, die die Vereinigten Staaten niemals gekannt hatten: wie viele der vom „Habsburgerjoch befreiten“ Nationen — oder Nationalitäten, wie man unter Franz Joseph sagte — wären beute froh, die „Kerkerluft“ Österreich-Ungarns zu atmen!

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