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Muß der Marxismus atheistisch bleiben?

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Mit anderen Worten: Ist der Marxismus notwendigerweise atheistisch? Obwohl diese Frage durch eine mehr als hundertjährige Tradition in völlig eindeutigem Sinne beantwortet zu sein scheint, ist das Bemühen mancher christlicher Theologen doch nicht ganz müßig, der marxistischen Religionsknitik ein paar neue positive Seiten abzugewinnen. Es könnte sich hier ja durchaus um eine Fehlentwicklung innerhalb des Marxismus handeln, die auf Grund neuerer Erfahrungen durchaus revidierbar wäre. Die an den maxiistischen 'Gesprächspartner

gerichtete Frage: Wie hältst du es mit deinem Atheismus? ist allein schon deshalb nützlich und sinnvoll, weil sie ihn zwingt, die Begründung seines Atheismus neu zu durchdenken. Gibt es also innerhalb des zeitgenössischen Marxismus Entwicklungen, die über das Niveau der klassischen Religionskritik hinausgehen und dadurch Ansatzpunkte für eine fruchtbare Diskussion bieten könnten?

Dazu ist zu sagen, daß die utopische Erwartung, die Religion werde

in einer zukünftigen klassenlosen Gesellschaft absterben, einer mehr realistischen Einschätzung des Phänomens Platz gemacht hat. „Weder die Aufklärung noch der traditionelle Materialismus haben die Prüfung der 'Geschichte bestanden“, erklärte Prof. Luporini. „Wir haben erkannt, daß die Wurzeln der Religion viel tiefer liegen und daß die menschliche Realität viel komplexer ist als es sich die Väter des klassischen Marxismus träumen ließen. Weder die Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse noch die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen werden von sich aus au einem automatischen Absterben der Religion führen, da diese in viel tieferen existentiellen Bedürfnissen des Menschen begründet äst.“

Glaube steht gegen Glaube

Die Anerkennung, daß das religiöse Bewußtsein auch eine positive soziale Funktion erfüllen kann, ist sicherlich eine neue Seite der marxistischen Religionstheorie; dies sollte jedoch nicht darüber hinweg-

täuschen, daß die Religion auch für viele heutige Marxisten ganz im Sinne Feuerbachs und Marx' eine Form der menschlichen „Selbsterat-fremdung“ ist, das heißt, eine Weise der menschlichen Vergegenständlichung, die sich dem Menschen gegenüber verselbständigt hat und ihm dadurch als eine fremde, unab-

hängige Macht erscheint. Besonders die Ausführungen des französischen Marxisten Roger Garaudy zeigten deutlich, daß der atheistische Kern des Marxismus der Mythos von der totalen Selbstentfremdung und Wiedergewinnung des Menschen ist. Sie machten auch deutlich, daß der Marxismus mehr ist als positive Wissenschaft oder Philosophie: nämlich eine Weltanschauung und Ideologie, die an die radikale Autonomie des Menschen und seine innerweltliche Vollendung glaubt.

Sollte sich nicht der Christ veranlaßt fühlen, sein inneres Verhältnis zu einem Atheismus, der sich selbst als ein positiver Glaube an die Zukunft des Menschen versteht, neu zu bestimmen? Warum sollte es gerade dem Christen unmöglich sein, auch mit dem erklärten Atheisten brüderlich zusammenleben, ihn als Atheisten und nicht nur als potentiellen Christen anzuerkennen? Freilich wird dann auch der Christ seinerseits verlangen müssen, als Christ und nicht nur als potentieller Verbündeter im Kampf um den Sozialismus voll und ganz anerkannt zu werden.

Ohne Bedingungen und geheime Vorbehalte

Vielleicht reduziert sich das sehr schwierige und mühsame Problem einer echten Verständigung zwischen Christen und Marxisten ganz einfach auf die schlichte, menschliche Frage, ob und inwieweit beide Seiten bereit sind, einander ohne Bedingungen und geheime Vorbehalte anzuerkennen! Das Haupthindernis, das einer solchen echten Verständigung mit dem Marxismus noch immer im Weg steht, ist gar nicht so sehr der Atheismus als solcher, sondern die scheinbar unbezwingbare Neigung der Marxisten, das, was sie für die absolute Wahrheit halten, auf der Ebene der gesellschaftlichen und politischen Praxis um jeden Preis, und sei es auch um den der Gewalt und des Menschenopfers, durchzusetzen. Es handelt sich also gar nicht darum, daß die Marxisten ihren Atheismus und die Christen ihren Glauben aufgeben, sondern — um den französischen Marx-Kritiker P. Jean Yves Calvez au zitieren —

um die Bereitschaft, endlich vom Himmel der abstrakten Philosophie und Ideologie auf die Erde unserer alltäglichen Probleme und Nöte herabzusteigen.

Pluralität auch im Marxismus

Als ein besonders interessantes Beispiel sei hier vor allem der italienische Professor Lombardo-Radice genannt, der sich in Salzburg mit aller Schärfe gegen jede Form des gesellschaftlichen Monolithismus wandte und die These vertrat, daß gerade die sozialistische Zukunftsgesellschaft den Pluralismus nötiger

&#9632; .>>•)&#9632; (is 490fu i'io b'!8J< fcatviM habe als das tägliche Brot. Wir wollen gern an die subjektive Aufrichtigkeit des sympathischen Professors glauben, der mit allem Nachdruck betonte, seine Rede sei eine öffentliche Rede ohne doppelte Wahrheit; wir wollen ihm auch gerne glauben, daß es ihm absolut ernst ist mit der Behauptung, der sozialistische Pluralismus umfasse auch den weltanschaulichen Gegner, der auch dann toleriert werden müsse, wenn er die Grundwerte der sozialistischen Gesellschaft in gutem Glauben ablehnt (was so etwas wie eine marxistische Anerkennung des irrenden Gewissens bedeuten würde!).

Anderseits wird man dem Christen ein gewisses Maß an Skepsis nicht verübeln können. Schaut die marxistische Praxis in Wirklichkeit nicht ganz anders aus? Allein, eine solche grundsätzliche Skepsis steht — bei aller gebotenen Nüchternheit und Wachsamkeit — dem Christen schlecht an. Gerade er, der doch an den Primat des Geistes glaubt, sollte sich in dem Vertrauen in die Macht der Idee von den Marxisten nicht übertreffen lassen. In unserer Welt universaler Kommunikation sind Ideen und Gedanken, die das tiefste Bedürfnis einer Epoche ausdrücken, eine reale Macht; einmal geboren und verbreitet, üben sie eine Wirkung aus, die unaufhaltsam ist.

Die Frage: Kann sich der Kammunismus ändern? wird also gerade der Christ nicht von vornherein in verneinendem Sinn beantworten dürfen. Vielmehr wird er sich überlegen müssen, ob die von ihm erhoffte (oder befürchtete) Änderung des Marxismus, seine „Vermenschlichung“, nicht doch auch — so paradox es auch klingen mag — zum Teil wenigstens an ihm selbst liegt: an seiner Bereitschaft und Fähigkeit, sich selbst zu überwinden und zu übersteigern. Natürlich kann man die Unmöglichkeit einer ideologischen Koexistenz in dem Sinn behaupten, daß zwei einander widersprechende Lehren auf die Dauer nicht nebeneinander bestehen können. Zwischen den Menschen aber, die sich zu verschiedenen Lehren bekennen, kann und muß es die Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinander, Miteinander und Füreinander geben.

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