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Vor 200 Jahren, am 23. Oktober 1805, wurde in Oberplan/Horní Planá Adalbert Stifter geboren. Um die Faszination, die von Stifters entschleunigenden Texten auch heute noch ausgeht, deutlich zu machen, bat die furche drei Schriftsteller um ihre spezifischen Zugänge zu dem oft vorverurteilten Autor. In diesem Dossier versuchen Julian Schutting, Reinhold Aumaier und Michael Donhauser literarische Annäherungen an den gar nicht so biedermeierlichen Schriftsteller. Redaktion: Cornelius Hell und Brigitte Schwens-Harrant Klassisches Humanitätsideal, Berührungsängste und Prosa von poetischer Dichte: Stifters "Nachsommer"

Friedrich Nietzsche ist es, der den bis dahin Geringgeschätzten als einen großen Stilisten erkennt - nennt seine Prosa in diesem Sinn "klassisch". dann wird er, so zirka ab den Siebzigerjahren, von österreichischen Schriftstellern der jüngeren Generation gewissermaßen wiederentdeckt und hochgeschätzt (beispielsweise von Peter Handke, Thomas Bernhard, auch wenn sich der in seiner Doppelgesichtigkeit über ihn lustig macht, von Peter Rosei und auch von mir; Gertrud Fussenegger war uns zuvorgekommen) - einer der Gründe mag sein, daß Stifter auf grandiose Art bestätigt, wozu die österreichischen Dichter, von der Lyrik abgesehen, begabt sind (zur psychologischen Erzählung), wozu aber kaum (zum Roman); daß es auf das WIE ankommt und nicht auf das WAS: wer die Kunst der Deskription in seiner Werteskala hoch oben rangieren hat, der sieht "erzählenswerte" Begebenheiten, ungewöhnliche Erlebnisse und der "Spannung" dienliche Intrigen gern als ein Merkmal der Trivialliteratur an, als ein Produkt tagtraumhafter Trivialphantasie (und so haben etliche von uns in Stifters Schatten zu schreiben begonnen).

Der Nachsommer - sechshundert Seiten Prosa von poetischer Dichte, sprachlich makellos; aber ein Roman ist das nicht, nicht einmal ein Bildungsroman, dem ja eine bevorzugte Behandlung des Geistigen, etwa der philosophischen Reflexion, konzediert wird: selbst bei Kafka (Der Prozeß = ein gedehntes Gleichnis), weit mehr noch bei Musil, lebt der Roman von individuellen Figuren, von Konflikten und auch Intrigen, die in den Handelnden oder Nichthandelnden vorgezeichnet sind, von Existenzängsten in einer undurchschaubaren Welt bzw. von einem Reagieren auf die so und so beschaffene Zeit - nichts davon im Nachsommer: die kleine Gesellschaft teilt wenige Eigenschaften wie gute Sitten, höhere Gesittetheit, Ernsthaftigkeit (nicht ein einziges Mal wird gelacht - Sinn für Komik charakterlich fragwürdig, als wäre zu lachen gleich jemanden auszulachen und Ironie und ironische Weltsicht eine Selbstüberschätzung des Menschen?), hat höchsten Respekt voreinander, hohe Wertschätzung für die Natur und die Kunst, teilt den Glauben an ein Sittengesetz in Gelassenheit und Abgeklärtheit, und so ist das einzige Unterscheidungsmerkmal, daß jeder dieser hohen Menschen einen anderen Namen hat: vieles von dem, was der oder der sagt, könnte genausogut ein anderer des erlesenen Zirkels sagen. und die äußere Handlung? da ja nicht immerzu gemeinsamen Betrachtungen über das Reich des Geistes und der Natur zu obliegen ist, wird zwischendurch eine Ausfahrt unternommen, im anderen Landsitz zu Besuch gekommen, wird abgereist und bald wieder angereist ...

Einen "sanften Unmenschen" sieht Arno Schmidt in Stifter (wohl deshalb, weil sich in der deutschen Literatur kein Beispiel findet für die Verinnerlichung von Autorität bis hin zum Humanistischen), und so haben auch bei einem Stifter-Symposion in Linz und dann auch in München vor bald dreißig Jahren (da wie dort war ich eingeladen, mein Stifter-Bild zu präsentieren) jüngere deutsche Literaturwissenschaftler dem Nachsommerschen Herrn von Riesach autoritäres, wenn nicht autokratisches Verhalten vorgehalten, in lachhafter Aufgebrachtheit beispielsweise darüber, daß der einem aus seinem Gesinde auf die Frage, warum es denn dies oder das an Gartenmöbeln oder Heu raschest unter Dach bringen solle, "Weil ich es weiß!" ("Weil ich es sage!" ?) zur Antwort gibt - er hat seinen Leuteln gewiß schon des öfteren einen uns Lesern nun ersparten Vortrag über die Vorzeichen eines jäh herannahenden Gewitters gehalten, aber die verstehen noch immer nicht Ameisenstraßen zu lesen, und nun eilt es! (eine Abschweifung: und die junge Wissenschaft hat sich auch über die wunderbare Erzählung Bergkristall mokiert: auf dem Irrweg durch heftiges Schneien immer höher hinan ist der Bub ritterlich-umsichtig um seine kleine Schwester bemüht, "Komm, Sanna!", sagte der Knabe, "Ja, Konrad!", antwortete das Mädchen - in dieser, geringfügig variierten Wechselrede drücke sich ein patriarchalisch emanzipationsfeindliches Erziehungsideal aus. Stilgefühl und Vernunft hat aber die Kleine: kämpft lieber brav gegen das Einschlafen an, statt früh emanzipiert zu erfrieren).

Mehrheitlich wird jedoch dem Nachsommer die Wahrmachung des klassischen Humanitätsideals nachgerühmt: in gelassener Breite würde den Kräften klassischer Humanität gehuldigt, gedämpft und verklärt durch das weichere, mildere Lebensgefühl österreichischer Art (und sollte immerhin die aristokratisch anmutende Zeitferne als "seltsam" wahrgenommen werden) - und einer wie ich kann sich nur wundern, daß dem Nachsommer nicht vor allem sein verkrampftes Beharren auf all dem angefühlt wird, was seinem Dichter am Davonschwimmen ist, krampfhaft festgehalten als eine brüchige Idylle, mehr noch als eine jede nur mehr schöner Schein, und sollte in ihre lichten Schattengestalten, in diese edlen Gespenster, nichts heraufdringen dürfen von dem Gebebe einer Welt, die sich Stifters mühlseliger Idealisierung zur Besserung oder Versittlichung des Menschengeschlechts nicht fügen mag: ein Weltordnungswahn, vielleicht von Berührungsängsten gestützt, scheint sich chaotischen Weltzuständen entgegenzusetzen, in einem Ordnungszwang, der trotz seiner Entrückung aus dem Gemeinen ins humanistisch präfigurierte Allgemeine etwas erahnen läßt von der Organisation totalitärer Staaten -

Erziehungsmaßnahmen an der ins Artifizielle zivilisierten Natur kommen lustvoll zu Wort, ausgekostet von einem vom eros paedagogicos streng, aber nicht ungerecht Beseelten: Herrn von Riesachs ganzer Stolz ist es unter anderem, daß sich die Singvögel in seinem Garten in einem "unsichtbaren Käfig" befinden, von seinem kundigen Eingehen auf ihre unterschiedlichen Bedürfnisse (um nicht zu sagen: Mentalitäten) dorthin gelenkt, wo er sie haben möchte. siehe auch seine breit dargebotenen Methoden, mittels welcher Vorkehrungen nach heutigen Begriffen biologische Schädlingsbekämpfung zu minimieren sei - in diesem unsichtbaren, aber aristokratischen Käfig zur Rettung einer heilen Weltsicht befremden kleinliche Kosten-Nutzen-Rechnungen, eines Schrebergärtners würdig, aber auch das Unbehagen an verordneten Selektionen der Zwetschken sozusagen nach Güteklassen wird von der sprachlichen Meisterschaft solcher Ausführungen hinweggenommen: scheinen in ihrem Wohlgefügten nicht länger von oberlehrerhafter Pedanterie gespeist zu werden. zugleich aber bleibt das im Kleinen ein Überwachungsstaat, Stifter ein großer Lehrer und Erzieher der Natur und auch seinen Figuren wie uns ein großer Bruder: alles, bis auf das frühzeitig ausgemerzte Unkraut, zählt zu seinen Zöglingen, wie erst recht die Rosen: das Zwangsritual, dem seine Lieben in den Zwangsjacken so hochgeistiger Gesittetheit und guter Sitten genügen, daß sie nicht merken, daran zu ersticken, findet seine hochpoetische Spiegelung in dem Kult, der den Rosen des also "Rosenhaus" genannten Herrenhauses zuteil wird, dichterisch ersonnen und daher nicht ein auf uns Leser abstrahlender Terror: gezogen und erzogen werden sie von einem, der im Geist des aufgeklärten Absolutismus alles für das Volk tut, das von sich aus nichts darf: ihr Spalier wird bei Sonne mit Tüchern verhängt, der solch artifiziellen Hervorbringungen schädliche Wind wird durch wohlkalkulierte Zugluft ersetzt, wie der Regen durch eine Betauung aus mit feinen Poren versehenen Tonnen, an der Dachrinne angebracht!

Vor so makellos geratener Poesie habe zu schweigen, was man im Nachsommer als bieder anzusehen nicht herumkommt: die Erörterungen etwa über die zur Naturnachahmung bestimmte Kunst, die aber hinter der Schöpfung zurückzubleiben habe, um dem Schöpfer nicht Konkurrenz zu machen - hätte nicht längst ein Lessing ..., hätte nicht schon ein August Wilhelm Schlegel befunden, die Kunst habe der Natur analoge Verfahrensweisen zu entwickeln; wäre denn zu Stifter trotz seiner humanistischen Bildung nicht gedrungen die Frage der Mimesis, die schon die Griechen beschäftigt hat? in einer Eliteanstalt für zum Wahren, Guten und Schönen leicht Erziehbare sind die Seinen und wir Leser einquartiert, heißen gut die strenge Einteilung des von Anbeginn schwankenden Rosenhauses in strikt separierte Zimmer, so als käme dessen poetische Konstruktion schon zum Einsturz, wenn wir etwa im Bücherzimmer und nicht erst im Lesezimmer zu lesen begännen!

Bei Musil könnte sich die Stelle finden, wie Herr von Riesach und der junge Naturforscher Bekanntschaft machen: der sieht ein Gewitter herannahen, bittet für dessen Dauer um einen Unterstand; jener bietet ihm eine Wette an, überzeugt, daß das Gewitter anderswo niedergeht, und so hat er über die Nacht zu bleiben - der Ortskundige hat aufgrund langjähriger Wetterbeobachtungen und besserer Kenntnis der umliegenden Berge die statistische Wahrscheinlichkeit auf seiner Seite. (Bernhardisch hingegen mutet eine Passage aus dem Beschriebenen Tännling an: der von seiner Braut eines Reichen wegen Frischverlassene holt seine Axt aus einer Kiste, schärft sie und begibt sich zu einem heiligen Brünnlein, sodann in ein Kirchlein, wo er heftig betet, und uns wird trotz Stifters Urheberschaft immer banger, was er mit der Axt vorhat ...)

In seiner Keuschheit liegen Stifter Anspielungen auf uns in unserer Verdorbenheit Naheliegendes fern, und so sollte man Stifterleser sich hüten vor Ungebührlichem an Vermutungen - wird während einer Kutschenfahrt ein Paar gerüttelt, zueinandergeschüttelt, so ist nichts anders gemeint als das. oder der Kalksteinsche Pfarrer, der vor sorgenvoller Bedachtnahme auf alles an Möglichkeiten, was so seitens meist harmlosen Baches den Schulkindern zustoßen könnte, geradezu ins Schwärmen gerät (Stifter kommt gern uns Kindergemütern entgegen, unserem Bedürfnis, nahezu gleichzeitig beunruhigt und beschwichtigt zu werden): verschämt sucht er seinem Gast zu verbergen, daß er, im Widerspruch zu seiner kargen Lebensweise, feine Unterwäsche trägt (von der lugt mehrmals etwas aus einem Ärmel heraus), aber deshalb ist er noch lange nicht ein Fetischist, der etwa gar Damenunterwäsche trägt, bloß weil er als ein Knabe in ein Mädchen verliebt war, das aus einem Wäschekorb geholte Wäsche zum Trocknen an die Leine hängt. schüchtern streckt er ihr zu den Worten "Nimm ihn!" durch den Gitterzaun einen Pfirsich entgegen - trotz seinem Erröten einen Moment lang eine gar nicht keusche Annäherung vor sich zu sehen, das geht ja noch an. aber die Auffassung eines Seelenbarons, von zentraler Bedeutung sei im Nachsommer Nathaliens Verletzung an einem Rosendorn - wärs mit Sah-ein-Knab-ein-Röslein-stehn Durchschauung nicht seit Generationen genug?

Stifters Zwanghaftes drückt sich auch in seinen Erzählungen aus, in Wiederholungen, die ein anderer unstatthaft raffiniert und pointiert zu vermeiden wüßte, indem er etwa schriebe, Bergkristall, das von den beiden Kindern auf dem Hinweg umgestürzt vorgefundene Bildstöckel sei auf dem Rückweg so zugeschneit gewesen, daß sie sich an ihm nicht hätten orientieren können - Stifter aber beschreibt uns als erstes den Weg wie in einem Wanderführer, dann den Hinweg der beiden und dann den Rückweg in die Irre. gleich zwanghaft, aber von der strengen Logik auch mir geboten, seine Wortwiederholungen: wer, wieder Bergkristall, Kühe als scheckig bezeichnet, hat bei dieser Bezeichnung zu bleiben, kann nicht abwechslungshalber in identitätsgefährdendes "Fleckvieh" ausweichen. und als ein großer Dichter weiß er sich, wie dann auch Kafka, einer bürokratisch-abstrahierenden Kanzleisprache verpflichtet, unter Vermeidung allen faulen Zaubers an nichtsnutzen Beigaben: selten vergleicht er, und um so mehr sitzt dann zur Verdeutlichung Herangeholtes: in Bergkristall rührt uns ans Herz die Auffassung des auch außerhalb seines Tales hochgeschätzten Schuhmachermeisters, die Nägel der genagelten Sohle von Bergschuhen hätten ein Abbild zu sein des Firmaments ...

Das vermutlich häufigste Stiftersche Motiv: zuzukehren, eine Gastwohnung oder auch nur ein Gastzimmer zugewiesen zu bekommen, Wohnungseinrichtungen als Stilleben zu betrachten, sich einzurichten - als wäre mit ritualisierten Praktiken der Unbehaustheit beispielsweise der Kunst vorzubeugen (Gegenprobe: auf der Wanderschaft zum Onkel, Hagestolz, nach einem bewegten Abschied von Ziehmutter und Ziehschwester, steigt dem jungen Viktor das auf: "Jetzt wird das Bettgestelle schon leer dastehen, das letzte Geräte, das mit blieb. Die Linnen werden herausgenommen sein, und das ungastliche Holz wird hervorblicken. Oder vielleicht arbeiten die Mägde schon in meinem Gemache, um ihm eine ganz andere Gestalt zu geben." - so als wäre er aus dem Haus hinausgestorben; bis zur Seßhaftwerdung anderswo seiner Identität verlustig, da etwas von seinem Ich in seinen Möbeln geblieben sei. so sehe ich Stifter vorm Betreten seines Arbeitszimmers bei sich anklopfen, mit einem Stadtplan seine täglichen Wege tun - wer immer bei ihm unterwegs ist, schaut in einem, fast einen jeden Schritt diktierenden Orientierungsfimmel nach Kennzeichen aus, sich auf dem rechten Weg zu befinden.

Hat Stifter die Natur geliebt? vermutlich so, wie ein Kind eine übermächtige Mutter auch fürchtet.

Julian Schutting, geboren 1937 in Amstetten, setzt sich seit der Sammlung "Steine" von 1973

literarisch mit Stifter auseinander.

Schutting veröffentlichte zuletzt die Prosabände "Tanzende" (Droschl Verlag 2005) und "Nachtseitiges" (Residenz Verlag 2004).

Die vollständige Fassung des hier abgedruckten Textes wird im Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich erscheinen.

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