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Brief aus London

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Der „Furche“ geht aus London mit Beziehung auf eine in der Folge vom 20. April veröffentlichte Randglosse zu den Zeitereignissen von dem Führer der gewesenen sudetendeutschen Sozialdemokratie, Herrn Wenzel J a k s c h, folgendes Schreiben zu:

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Der „Furche“ geht aus London mit Beziehung auf eine in der Folge vom 20. April veröffentlichte Randglosse zu den Zeitereignissen von dem Führer der gewesenen sudetendeutschen Sozialdemokratie, Herrn Wenzel J a k s c h, folgendes Schreiben zu:

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Sehr geehrter Herr Redakteur!

österreichische Freunde haben mich auf Ihre geschätzte Zeitsdirift aufmerksam gemacht, die in ihrer Ausgabe vom 20. April meiner bescheidenen Arbeit daheim und im Auslande gedacht hat. Meines Wissens nach ist „Die Furche“ die erste publizistische Tribüne in Österreich, welche in dieser Form an das vergessene Kapitel der Selbstaufopferung der demokratischen Sudetenparteien im Kampfe gegen den Nationalsozialismus erinnert hat. Dieses Kapitel sollte aber überall bekanntgemacht werden, wo heute meine heimatlos gewordenen Landsleute eine neue Heimat suchen. Darf ich dazu einiges bemerken?

Es wird uns zumeist nur die Schlußziffer von 88 Prozent Henlein-Stimmen bei den Terror-Gemeindewahlen des Frühjahn 1938 vorgehalten. Man müßte aber gerechterweise die Widerstandsleistung der demokratischen Sudetenparteien nach der Zeittafel der letzten Vorkriegskrise beurteilen. Im Jahre 1933 nämlich, zur Zeit des Sturzes der Weimarer Demokratie, waren die Sudetendeutschen im Prager Parlament noch zu 80 Prozent durch demokratisch-aktivistische Parteien vertreten. In den darauffolgenden Jahren wurden diese Parteisn — Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Bauern-bündler — durch die mörderische Wirtschaftskrise in unseren Exportgebieten, durch die propagandistische Auswirkung der deutschen Aufrüstungskonjunktur und nicht zuletzt durch die in nationaler Beziehung bedingte Erfolglosigkeit ihrer Regierungspolitik arg geschwächt. In diesen Jahren war die ganze europäische Demokratie im Rückzug. Der Turnlehrer Henlein erfreute sich zum Bei- spiel der Unterstützung mächtiger tschechischer und ausländischer Faktoren. Solange es aber noch einige Hoffnung gab, daß die nichtfaschistischen Großmächte dem Vordringen Hitlers nach Wien und Prag Widerstand leisten werden, haben deutsche Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Land-bündler innerhalb der Prager Regierung mit den korrespondierenden tschechischen Parteien loyal zusammengearbeitet. In den Grenzgebieten der Republik hatten sie in diesen Jahren einen Kampf gegen wirtschaftliche Massennot und Naziterror zu bestehen, der sich meiner Überzeugung nach mit jeder Kampfleistung europäischer demokratischer Parteien messen kann.

Nach dem Fall Österreichs war die Stellung der aktivistischen Sudetenparteien äußerst prekär geworden. Die Christlichsozialen und die Landbündler Haben damals den Kampf aufgegeben. Dies geschah jedoch, was viele ihrer verantwortlichen Männer anbetrifft, durchaus nicht aus freien Stücken. Von dem Gewerkschaftsführer Hans Schütz weiß ich, daß es im Parteivorstand der Christlichsozialen Volkspartei eine starke Gruppe für Weiterkämpfen gegen den Nazimus bis zum bitteren Ende gab. Den Ausschlag hat aber gegeben, daß in diesen kritisdien Tagen der damalige Ministerpräsident Dr. Milan H o d z a eine Deputation der deutschen Christlichsozialen nicht empfing. In einem später in London veröffentlichtem Buche hat Dr. Hodza zugegeben, daß er schon seit dem Jahre 1937 dazu neigte, die deutschen aktivistisehen Parteien fallen zu lassen und einen innerpolitisdien Ausgleich mit der Partei Henleins anzustreben. Immerhin ist dann in dem Verzweiflungskampfe der letzten Monate vor „München“ der Generalsekretär des Katholischen Volksbundes, Pfarrer Reichenberge r, im Lager der entschiedenen Antifaschisten geblieben. Er war auch unter den Unterzeichnern jenes letzten Friedensappells an die Sudetendeutschen, der nach der Flucht Henleins in den kritischen Septembertagen 1938 hinausging und der auch unter den enttäuschten Henlein-Anhängern großen Anklang fand.

Es liegt mir sehr viel daran, den Schlußkampf der Sudetendemokratie nicht als eine „Ein-Mann-Äffäre“ erscheinen zu lassen, sondern den Opfern aller Jetei-Iigten gerecht zu werden.

Ihr Mitarbeiter war offenbar noch nicht davon unterrichtet, daß während des Krieges im Ausland ein überparteilicher Versuch zur Rettung der Sudetenheimat gemacht wurde. Pfarrer E. J. Reichenberger gehörte einem „Democratic Sudeten-Commitee“ an, das in London, Washington und anderen Hauptstädten für eine demokratische Lösung der Völkerprobleme einer neuen Tschechoslowakei warb. In London sind zwischen Dr. BeneX und seinen Ministern einerseits und einer Delegation deutscher Sozialdemokraten aus der CSR andererseits eingehende Besprechungen über die Möglichkeit einer „Vertragslösung“ des tschechisch-deutschen Problems geführt worden. In dem Maße aber, als während des Krieges die Politik einer totalen Aussiedlung in tschechi-sdien Kreisen an Boden gewann, trat eine Entfremdung ein. Selbstverständlich haben meine Freunde und ich irgendeine Mitwirkung an dieser Art von Lösung abgelehnt.

Es sei mir noch gestattet, abschließend klarzustellen, daß die Annahme der „Furche“ bezüglich einer Zusammenarbeit zwischen dem Tschediischen Nationalkomitee des Herrn General Prchala und mir nicht zutrifft.

London, 6. Mai 1946.

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