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Das Morgen ruht noch im Ei

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Als nach dem zweiten Weltkrieg die Technische Hochschule in Aachen wiederaufgebaut werden sollte, wollte man — vorsichtshalber — Studienplätze für 2000 Hörer einplanen. Der damalige Rektor der Hochschule, Professor Wilhelm Fucks,erklärte, in 20 Jähren werde die TH Aachen nicht 2000, sondern 10.000 Studenten haben. Er hatte das nicht geschätzt, sondern mit seinen eigenen Methoden errechnet. Die Entwicklung gab ihm recht: die Technische Hochschule Aachen hat heute 10.000 Hörer.

Die Zukunft vorauszuberechnen, ist sozusagen das Hobby von Professor Fucks; ein Hobby freilich, hinter dem die Arbeit eines Lebens steht und das für viele ernsthafteste Dinge von Bedeutung ist. Zum Beispiel für die große Weltpolitik. Nach vielfachen Erprobungen an anderen Beispielen, die inzwischen nachkontrolliert werden konnten, hat Prof. Fuokis mit den von ihm ausgebauten statistischen Methoden gleich; ebenso wird die Ausbildung in allen Ländern (auch in China!) forciert vorangetrieben.

Explosionsartige Entwicklung

Wie wird also die Entwicklung von Bevölkerung, Industrie und Wirtschaft in den nächsten Jahrzehnten vor sich gehen? Einige Zahlen: England wird im Jahre 2000 etwa 63 Millionen Einwohner haben, Italien und Deutschland etwas mehr; die Vereinigten Staaten werden 245 Millionen Bewohner zählen, die Sowjetunion 300 Millionen, Indien 630 Millionen, China 1,7 Milliarden. Im Jahre 2040 wird es 2,7 Milliarden Chinesen geben — acht- bis neunmal soviel wie Amerikaner oder Russen. Die Stahlproduktion entwickelte sich in der Vergangenheit ziemlich unregelmäßig; sie läßt sich für das Jahr 1980 mit 53 Millionen Tonnen für Deutschland (jetzt 40 Millionen Tonnen jährlich), mit 40 Millionen für England, 30 Millionen für Frank reich berechnen. Die Sowjetunion wird im Jahre 2000 160 Millionen Tonnen Stahl produzieren, etwa ebensoviel wie die USA; aber schon im Jahre 1982 wird die Stahlproduktion Chinas doppelt so groß sein wie die der USA oder der UdSSR; 1990 wird sie so hoch sein wie die der Vereinigte Staaten, Sowjetrußlands und Westeuropas zusammen. Im Jahre 2015 doppelt so groß wie die dieser Länder.

Die Energieproduktion: 1960 erzeugten die USA 11,5 Milliarden Megawattstunden Energie; die UdSSR 5,5 MWh, die WEU 4,2 MWh, China 3,7 MWh. Im Jahre 2000 werden Deutschland und England je Milliarden MWh erzeugen, Frankreich eine Milliarde, die USA Milliarden, die UdSSR 13 Milliarden, China 25 Milliarden. Im Jahre 2040 wird die Energieproduktion der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gleich sein, aber siebenmal so groß wie die deutsche oder englische; die Energieproduktion Chinas aber wird die Amerikas oder der Sowjetunion um das 30fache übertreffen.

Chinas Macht wächst

Prof. Fuoks begründet eingehend, wie er zu diesen Zahlen kommt; seine Gedankengänge sind auch für den Nichtfachmann durchaus nachvollziehbar Die Ergebnisse seiner Berechnungen werden in dem Buch an anschaulichen Kurven darge- stellt. Was bei allen diesen Berechnungen in die Augen springt, ist der außerordentliche Machtzuwachs Chinas. Während die europäischen Länder einzeln praktisch zur Bedeutungslosigkeit herabsinken und nur noch in größeren Blöcken, als EWG oder WEU, mit den USA und der UdSSR konkurrieren können, werden selbst diese Blöcke ebenso wie die heutigen Weltmächte zwischen 1970 und 1975 von China in steilem Aufstieg überflügelt. Selbst die Vereinigung von USA, UdSSR und WEU (deren Macht dann nicht nur gleich der Summe der Teile wäre) kann' das zukünftige Machtpotential Chinas nur bis 1985 übertreffen; von da an würde China auch einen sol die Entwicklung großer und kleiner Staaten in bezug auf ihre Bevölkerungszunahme, die Zunahme der Energieproduktion und der Stahlproduktion bis etwa zur Mitte des nächsten Jahrhunderts berechnet. (Berechnungen auf längere Zeiträume sind zu unsicher.) Die Ergebnisse sind in dem Buch „Formeln zur Macht“ (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, Preis: 19.80 DM) niedergelegt.

Bevölkerungszahl, Energie- und Stahlproduktion hält Prof. Fucks für die Faktoren, die die wirtschaftliche und — parallel dazu — die politische Miacht eines Landes bestimmen; damit auch den möglichen Erfolg eines Krieges. Atom- und Wasserstoffbombe, biologische und chemische Waffen werden in ein bis zwei Jahrzehnten alle hochindustrialisierten und wirtschaftlich hochentwickelten Länder besitzen; sie stellen also keinen eigens zu berücksichtigenden Faktor dar. Auch die Begabung der Menschen und somit die geistigen Voraussetzungen für die Entwicklung eines Volkes ist im Durchschnitt chen Staatenbund, falls er zustande käme, rasch weit hinter sich lassen.

Prof. Fucks zieht aus den von ihm errechneten Zahlen die Folgerungen: Zunächst: Was die Menschheit heute brennend interessiert, ist die Frage des Krieges. Nach der geschichtlichen Erfahrung stellen jene Zeitpunkte, an denen die Macht zweier oder mehrerer Länder ungefähr gleich ist, Krisenpunkte dar. Aus den Kurven Prof. Fucks’ läßt sich ablesen: China erreicht die Macht der Sowjetunion etwa 1970, der USA 1974, der Vereinigten Staaten und Westeuropas 1980, die eines eventuellen amerikanisch-westeuropäisch-sowjetischen Blocks 1985. Eine solche Blockbildung würde also den Gefahrenpunkt bis mindestens 1985 hin- ausschieben. Anderseits wind die Macht der USA auf mehrere Jahrzehnte hinaus größer sein als die der UdSSR, so daß — auch wenn man die Annäherung der Kurven in Betracht zieht — mindestens in den nächsten Jahren kein erfolgreicher Krieg der Sowjetunion gegen die Vereinigten Staaten geführt werden könnte. Da wirtschaftlich zwischen diesen beiden Ländern nie die Situation wie vor Hegemoniekriegen bestand und auch in Zukunft kaum bestehen wird, glaubt Prof. Fucks, daß es nie eine ernsthafte Kriegsgefahr zwischen diesen beiden Staaten gab und auch in Zukunft nicht geben wird. Er hält auch ein Bündnis China-Rußland für unwahrscheinlich, da sich machtpolitische Gesichtspunkte gegenüber ideologischen als stärker zu erweisen pfle- \ gen (wie etwa die Kriege zwischen den griechischen Stämmen des Altertums oder den christlichen Staaten des Mittelalters und der Neuzeit darlegen). Das Schicksal des Weltfriedens wird also ab 1985 weitgehend von der politischen Entwicklung, das heißt von der Blockbildung, abhängen.

Den Frieden sichern!

Nicht unerwähnt mag bleiben, daß Prof. Fucks auch Vorschläge für die Erhaltung des Friedens macht. Sie beruhen auf dem Gedanken: Gebt den Menschen das, was sie Jahrtausende hindurch nur durch den Krieg erhalten konnten, auf andere Weise — dann werden Kriege überflüssig sein! Ein hoher Lebensstandard, wobei kein zu großes Gefälle zwischen den einzelnen Völkern besteht, nimmt den wirtschaftlichen Anreiz zum Krieg. Im übrigen wächst die Bevölkerung der Welt nicht ins Ungemessene: die Berechnungen Prof. Fucks’ aus der Vergangenheit ergaben, daß mit erreichter Industrialisierung die Geburtenüberschußziffer in beinahe naturgesetzlicher Weise rapid absinkt. Danach steigen die Bevölkerungszahlen wieder ebenso langsam an, wie dies in den Jahrtausenden vor der Industrialisierung der Fall war. Somit verringert sich die Gefahr von Kriegen auch dadurch, daß die „Bevölkerungsexplosion“ zum Stillstand kommt.

So gilt es, scheint’s, vor allem mit wirtschaftlicher Vorsorge und politischer Vernunft über die ge.'ehrlichen Jahrzehnte vor und nach der Jahrhundertwende einmal hinwegzukommen.

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