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Der Tod und das Leben

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Neu-Malthusianismus, methodische Geburtenbeschränkung, diesmal durch großzügige staatliche Propaganda mit Berufung auf das Gemeinwohl gefördert, oder abet Bevölkerungspolitik, gerichtet auf Pflegt und Sicherung des natürlichen Aufbau : menschlicher Gemeinschaft von ihren Wurzeln her — diese diametralen Gegensatz treten sich jetzt in weltweiten Bewegungen gegenüber. Ihr Verlauf wird größere Entscheidungen bergen als ein Weltkrieg.

Durch böse Erfahrungen gewitzigt, hat Sowjetrußland sein früheres Verhältnis zwischen Staat und Familie geändert. In dem nihilistischen Überschwang der ersten bolschewistischen Machrperiode war die Un- gebundenheit des Sexuallebens zum Prinzip erhoben worden; die Gesetzgebung des Jahres 1920 hatte selbst die Tötung des keimenden Lebens straffrei gemacht; Ehe und Familie schienen der Auflösung zu verfallen. Doch die Feststellungen, die 1926 auf dem großen Ärztekongreß von Kiew die eingetretenen ungeheuren Verluste an Leben und Gesundheit offenbarten, wirkten wie ein Schreckensschrei und leiteten Seine Umkehr ein. Die einsetzende bevölkerungspolitische Gesetzgebung der Sowjets suchte stufenweise die begangenen verhängnisvollen Fehler zu korrigieren. Bereits sind mehrere Vasallenstaaten mit primitiven Maßregeln in gleicher Richtung vorgegangen, erst jüngst die Tschechoslowakei. Keine der Volksdemokratien“ ist aber den teuer erkauften Erkenntnissen mit einer so methodischen Gründlichkeit gefolgt wie Schweden, dieser sozialistisch geführte Staat, der das Glück hatte, während zweier Weltkriege als nächster Nachbar der Kombattanten zwar ein’ viel versuchter, aber immer geschickt widerstehender unbeteiligter Zuschauer zu bleiben. Kaum in einem anderen europäischen Lande hat in der Lebensgestaltung des Volkes eine alte Tradition an Ehrbarkeit und Ordnungsdisziplin für das Gemeinwohl so viel und zugleich lebendiges Christentum so wenig zu sagen wie in diesem Lande, das sich eines hohen Wohlstandes erfreut und mit den Vorteilen des Reichtums und einer gewissen Sorgenfreiheit auch deren Nachteile als Merkmale an sich trägt. Zwei dieser Zeichen waren die große Zahl der Ehetrennungen und di Tiefe der Geburtsrate, die bis vor kurzem unter jener Frankreichs rangierte und mit 85.000 Geburten jährlich dem katastrophalen Vorkriegsgeburtenstand Österreichs zunächst stand.

Die Folgerungen, welche die schwedische Gesetzgebung gezogen hat, sind zwiespältig: Sie fordern Widerspruch heraus, wo sie den Schutz des keimenden Lebens mit Ausnahmen durchbrechen. Aber auf dem Gebiet der praktischen Familienpflege und der positiven Vorkehrungen zeichnen sie sich durch ihre Großzügigkeit aus. Es sind vernunftmäßige, utilitaristische Motive, welche diese Fürsorge um die Familie und den natürlichen Volksnachwuchs hervorrufen, doch sie beanspruchen nicht zuletzt Aufmerksamkeit deshalb, weil sie einen neuen Einbruch in die im Sozialismus herkömmliche geringschätzige Behandlung des Ehe- und Familienproblems darstellen. Es erfolgt der Versuch, die Grundfeste der menschlichen Gesellschaft, die Familie, mit den Mitteln eines Staates, der ihren sittlichreligiösen Schutz nicht kennen will, aus ihrer heutigen, schon weithin sichtbar gewordenen Bedrohung um des Staates willen zu erretten.

Tatsächlich hat das schwedische Beispiel die Diskussion über di dabei ineeschlazene Methode und bisher gewonnene Erfahrung schon über die Grenzen des skandinavischen Sozialismus hinausgetragen und audi in dem gesinnungsverwandten österreichischen Lager ein gewisses Echo erweckt. Sehr eingehend befaßt sich mit dem Thema ein Aufsatz, den jüngst die österreichische sozialistische Monatsschrift veröffentlichte . Der Autor erinnert daran, daß den ersten Anstoß zu der reformerischen Bevölkerungspolitik des schwedischen Sozialismus ein vor anderthalb Jahrzehnten erschienenes Buch „Krise in der Bevölkerungsfrage“ gegeben hat, mit dem die Sozialhygieniker Aiva und Gunnar Myrdal die Öffentlichkeit durch den Nachweis des durch die Geburtenbeschränkung hervorgerufenen Lebensverlustes schwedischen Volkstums alarmierten. Schon 1938 antwortete das schwedische Parlament auf die hervorgerufene Bewegung mit einem Gesetz, das der willkürlichen Geburtenbeschränkung eine kontrollierte, auf euge- nische und medizinische Titer beschränkte, entgegenstellen wollte. Diese Reglementierung wurde im Vorjahr durch einen Gesetzgebungsakt ergänzt, der auch die „soziale Indikation“ durch die Bestimmung legistisdi formulierte: Der Eingriff gegen das keimende Leben sei statthaft, wenn „unter Berücksichtigung der Lebensverhälttnisse und übrigen Umstände angenommen werden kann, es würden die körperlichen und seelischen Kräfte der Frau ernstlich durch die Geburt und die Pflege des Kindes herabgemindert werden“.

Das Vorhandensein dieser Voraussetzung ist durch eines der amtlichen aus Ärzten und Sozialfürsorgern zusammengesetzten „Kuratorien“ festzustellen.

Die Gesetzgeber blieben sich offenbar bewußt, wie wenig mit der amtlichen Kontrolle der Geburtenbeschränkung, zumal bei einem so bedenklich weiten Spielraum für zugelassene Eingriffe gegen das keimende Leben, getan sei und bauten mit dem Aufwand großer budgetärer Mittel — im Staatshaushalt von 1948/49 von rund 509 Millionen schwedische Kronen, einem Achtel der gesamten Staatsausgaben — ein umfangreiches System der Kinder- und Familienfürsorge auf: Es erfolgen Auszahlungen erheblichen Umfangs an die Mütter bis zum 16. Lebensjahr des Kindes, gleichbleibend, ohne Rücksicht auf Einkommen und soziale Lage der Eltern, ferner Mutterschafts- und soziale Beihilfen, staatliche Leistungen für Kindergärten und -kolonien, Kinder- und Hausfrauenreisen. Überdies sieht das Gesetz Eheschließungsdarlehen im Betrage bis 2000 Kronen und eine staatliche Gesundheitsüberwachung von Mutter und Kind vor.

Die Richtigkeit dieser positiven Maßnahmen wird durch einen sichtbaren Erfolg bestätigt, an dem freilich auch andere Faktoren, so das befestigte Bewußtsein gesicherter Existenz nach der Kriegsgefahr mitgewirkt haben dürften: Der katastrophale Geburtenausfall ist verschwunden, in wenigen Jahren hat Schweden durch eine um 65 Prozent erhöhte Geburtenziffer seinen Bevölkerungsrückgang ausgeglichen.

Damit ist jedoch noch nicht alles über diese reformeriscbe Bevölkerungs- und Familienpolitik gesagt. Sie ist füglich nicht ganz zu trennen von der ihr vorausgehenden Theorie, die in dem Myrdalschen Buch ihre Definition gefunden hat. Der für Österreich geschriebene sozialistische Kommentar spricht sich darüber mit aller Deutlichkeit

aus: Die Institution der Familie stamme „aui älteren, verschwundenen Produktionsperioden und hinkt in ihrer Anpassung ‘ ar unsere heutigen Lebensbedingungen der Entwicklung nach.“ Die gesunkene Fruchtbarkeit sei den Myrdalschen Auffassungen nach nichts anderes als „ein Symptom für die Schwierigkeiten, die vererbte Familieninstitution dem modernen ökonomischen und sozialen Leben anzupassen“.

So sei also „die Krise der Familie. nicht; anderes als ein Teil des gesellschaftlichen Ubergangsprozesses, in dem wir uns befinden“, der zu einer Neugestaltung der Familie führen muß; in dieser habe die Frau ebenso wie der Mann in der Produktion zu stehen, die private Haushaltsführung und die „individualistische Elternautokratie“ sowie die Stellung der Hausfrau habe zu verschwinden, die Kinder „spielen, essen und schlafen“ während des Tages unter der Obhut der Schule. Für die Familie verbleiben, wie die Myrdals auseinandersetzten und die sozialistische Interpretation es mit Verständnis vorsetzt, „gemeinsame Wohnung, gemeinsame Freizeit sowie das schwer erfaßbare subtile persönliche Verhältnis“ — gemeint ist das Verhältnis der Eltern zueinander und zu den Kindern.

Diese „neue Familie“, deren Plan uns nun auch in Österreich präsentiert wurde, ist wurzelechtes materialistisches Erzeugnis. An Stelle der „veralteten Institution“ tritt das in einen riesigen Fabriksaal oder in eine Massenkolchos verwandelte Kollektiv der Menschheit. In diesem stehen über den Rechten der Familie, den Grundrechten des Menschen, die Gesetze der ökonomischen Entwicklung, die Mann und Frau in di , /(Produktion“ verweisen, nur mit dem Anrecht auf eine gemeinsame Schlafstätte, als Eltern ohne Elternrechte, ohne Erziehungs- pfhehten, die der Staat, der Allesbesserwisser und Alleskönner, übernommen hat. Eine Umkehrung der Wertordnung, in der das Grundelement der menschlichen Gemeinschaft umgestülpt ist.

Es ist bezeichnend — das Budget 1948/49 macht es in seinem der Familienpolitik gewidmeten Aufwand ersichtlich —, daß di klugen Leute des schwedischen Sozialismus den Grundlehren der Myrdalschen Gesellschafts- und Familienreform mit ihrer Praxis nicht gefolgt sind. Denn von der halben Milliarde Schwedenkronen, die diesem allgemeinen Titel zugewandt sind, erscheinen 479 Millionen für die Auszahlung der Kinderbeihilfen an die Mütter und Mutterhilfe in Rechnung gestellt und nicht ein einziger Posten, der als eine Einmischung des Staates in den inneren Bereich der Familie und Beschränkung der Elternrechte im Sinne eines staatlichen Erziehungsmonopols gedeutet werden könnte. Was an positiver Leistung für die Familie in Schweden geschehen ist, läuft parallel den Forderungen christlicher Familienpolitik, vor allem nach Kinderbeihilfen, besonderen Wohlfahrtsaufwendungen für kinderreiche Familien, und nicht zuletzt Schaffung von Lebensraum für die Familie durch eine energische weitschauende Wohnungsfürsorge die Zuständen ein Ende macht, die im Effekt das Ein- und Zweikindersystem bedeuten.

Die schwedische Gesetzgebung ist in ihrer Großplanung für Familienschutz und Familienförderung und ihren positiven Maßnahmen in der Tat in nicht geringem Maße ein Beispiel, das auch im österreichischen Sozialismus zur Nachdenklichkeit und Nachahmung anregen könnte. Die Untergrabung der Ehe und Familie durch die Säkularisierung ihres Wesens, durch die Erniedrigung ihres Rechtsstandes zum bloßen bürgerlichen Vertrag, hat überall mit solcher Zerstörung der sittlichen Wertord

nung auch tödliche Erscheinungen für das Volkstum hervorgebracht. Wenn für Gesellschaft und Staat eine innere Erneuerung erfolgen, an Stelle des Verfalls und des Todes das Leben treten soll, wird es nie geschehen können, ohne daß der Ehe und Famlie ihr Recht und ihr Schutz durch eine gesunde Bevölkerungs- und Familienpolitik zurückgegeben werden.

„Die Zukunft“, Heft 6, Mitte Juni 1949: „Bevölkerungs- und Familienpolitik in Schweden“ von Otto Binder.

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