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Geschichte unserer Zeit, 1870—1950

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Das Buch des deutschböhmischen Historikers Dr. Emil Franzei bedeutet eine interessante Neuerung auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung. Der Verfasser versucht nicht nur eine Darstellung von religiösen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen oder politisch militärischen Ereignissen zu bringen, sondern beschreibt in 359 knapp gehaltenen Absätzen das Geschehen auf sämtlichen Lebens- und Wissensgebieten innerhalb der letzten achtzig Jahre. Dieser Versuch, so großes Material in ein handliches Buch hineinzudrängen, ist gelungen. Franzei ist der naheliegenden Gefahr, selbst einer der „terribles simplificateurs“ (J. Burckhardt; vgl. S. 417) zu werden, entgangen; er behauptet nicht irgendwelche Tatsachen, sondern es ist sein großes Geschick, die Probleme zu stellen und den Leser selbst zur Überlegung und zum Suchen nach einer Lösung anzueifern.

Die Zeit von 1870 bis 1950 gliedert Franzei in drei Teile: 1871 bis 1898, „Die Führung der Welt durch die europäischen Großmächte“, 1898 bis 1917, „Die Erschütterung der europäischen Vorherrschaft in der Welt“; im Jahr 1917, in dem die europäischen Staaten zeigten, daß sie nicht mehr in der Lage waren, aus sich selbst heraus eine Löäung ihrer Probleme zu finden, nämlich einen tragbaren Frieden zu schließen, sieht Franzei den entscheidenden Wendepunkt: es beginnt das „Globale Zeitalter“, Europa spielt letztlich nur eine Nebenrolle. Diese Tatsache sei in der Zwischenkriegszeit nicht klar zu erkennen gewesen, da sich beide heute tonangebenden Westmächte, USA und Rußland, zeitweilig an der Weltpolitik desinteressierten. Aus der ungeheuren Fülle der behandelten Argumente seien nur wenige herausgegriffen:

Besonders interessant ist die Darstellung der wirtschaftlichen und industriellen Probleme, die immer ansteigende Bedeutung der Großbanken in der deutschen Wirtschaft, die Bildung von Kartellen und Trusts; dann wieder die Zusammenhänge zwischen Industrie und Politik, zum Beispiel die Beeinflussung der öffentlichen Meinung Deutschlands zugunsten der Flottenbaupolitik durch eine der Schwerindustrie dienlichen Presse.

Meisterhaft schildert Franzei die politischen, geistigen und literarischen Strömungen in Deutschland, die den Boden für den späteren Nationalsozialismus, das „politische Barbarentum", bildeten.

Als letzte Einzelheit wäre das mitteleuropäische Dilemma in der Zwsichenkriegszeit anzuführen: Der Donauraum bildete ein

Vakuum zwischen drei revolutionären Großmächten, Rußland, Deutschland und Italien. Hitlers Machtergreifung in Deutschland bewirkt, daß man in Österreich den Wert der Eigenstaatlichkeit erkennt; man beginnt sich wieder auf altösterreichische Traditionen zu besinnen, deren Pflege unwillkürlich zu einer Föderation aller sogenannten Nachfolgestaaten führen müßte, die allen Expansionsgelüsten hätte entgegentreten können. Aber gerade diese Föderation wird von den Hauptnutznießern der Ordnung von 1919, den Politikern der „Staatsvölker , verhindert.

Allein die aufgezählten Punkte enthalten schon genügend Material für mehrere historische Arbeiten. Aber nicht nur der Historiker, sondern auch der geschichtlich wenig vorgebildete Laie wird das Buch mit großem Interesse lesen; gerade diesem ist es auch besonders zu empfehlen. Mit großer Klarheit zeigt Franzei, wie viele Autoren und Wissenschafter, zum Beispiel Darwin, Nietzsche, Lang- behn usw., von unheilbringenden Schlagwortlieferanten mißbraucht und mißdeutet wurden. Mit großem Geschick werden zahlreiche einzelne Persönlichkeiten mit wenigen Strichen gezeichnet; positive Erscheinungen wie der wahrhaft moderne Gegner des Modernismus, Papst Pius X, der Kompromisse mit einer bereits veralteten Philosophie ablehnte, oder andererseits die Zerstörer Europas wie Adolf Hitler und Eduard Benež.

Minimale Fehler wie zum Beispiel der Pontifikatswechsel im Jahre 1940 statt im Jahre 1939 (Zeittafel Seite 462) oder der Rücktritt Schuschniggs am 11. Februar 1938 statt am

11. März (Seite 383) können in einer zweiten

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