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Kein Rückweg zum „Ostblock”

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Wird sich der europäische Osten wieder zum „Block” verhärten? Wird dieses Gefüge kommunistischer Staaten im Spannungsfeld zwischen chinesischer „Militanz” und westlicher „Aufweichung” erstarren? Und wenn Osteuropa sich nicht mehr in stalinistische Selbstrsolierung zurück- zdehen kann, wird es der doppelten Gefährdung nicht dadurch zu entkommen suchen, daß es sich an alte Zwangsmethoden klammert, bewährte Tabus festigt und sich auf Reaktion im wörtlichen Sinn versteift?

Nicht wenige Anzeichen der letzten Zeit scheinen solche Tendenzen zu bestätigen; in den Wochen vor dem 23. sowjetischen Parteitag sind in fast allen Ländern des sowjetischen Bündnissystems Vorgänge zu beobachten, die in verschiedenem Grad als Rückschritt auf dem Weg der Reform und Entkrampfung im Kommunismus erscheinen:

• das Schriftstellerurteil in Moskau,

• die Maßregelung der Intellektuellen in Ost-Berlin,

• der Streit mit den polnischen Bischöfen,

• Verhaftungen in Ungarn,

• überall zunehmende Auseinandersetzungen mit „westlichen Einflüssen”.

Wieder Satelliten?

Das sind Vorgänge, die nichts miteinander zu tun haben brauchen, doch alle verschiedener Ausdruck der ideologischen Verängstigung und Ratlosigkeit in den Führungskadern der Parteien sind. Allerdings sind nirgendwo Anzeichen dafür zu entdecken, daß eine Rückkehr zum Terror als allgemeine Regierungsmethode angestrebt würde, nirgends der Versuch, die Notwendigkeit zur praktischen Koexistenz mit dem Westen anzuzweifeln. Und noch wichtiger ist: Keines dieser Länder zeigt eine Neigung, den — größeren oder kleineren — Spielraum, den es gewonnen hat, mit einer neuen Satellitenexistenz einzutauschen — nicht einmal unter dem (für strenggläubige Kommunisten verführerischen) Aspekt einer „internaitio- nalen Einheit”, die aus einem totalen Bruch mit den Chinesen entstünde.

Die Befürchtung, daß den sowjetischen Freunden etwas derartiges vorschweben könnte, ist in den osteuropäischem Hauptstädten kaum geringer als die andere Sorge der Parteiführungen, daß der politische und ideologische Autoritätsschwund Moskaus seit Chruschtschows Sturz in den eigenen Ländern manche unkontrollierbare Entwicklung befördern könnte. Dagegen gibt es keine ganz verläßlichen Rezepturen mehr, weder eigene noch sowjetische. Die solide, einst für den kleinsten Funktionär leicht erkennbare „Linie” ist nicht mehr sichtbar zu machen. Nicht in der Wirtschaft, wo alle diese Länder in verschiedenen Stadien der Reform und des Umbaues stecken und schon deshalb van „multilateraler Kooperation” (dm Sinn des idealen Comecom) weiter entfernt sind denn je. Nicht in der Ideologie, wo der kulturpolitische Horizont mehr von den wechselnden Geschmacks- und Opportunitätserwägungen örtlicher Machthaber abgesteckt wird als von geistigen Perspektiven. Nicht einmal in der Außenpolitik; hier ist die Aktionseinheit (zusammengehalten durch die Frontstellung gegen Bonn und gegen Amerikas Vietnampolitik) noch weitgehend erhalten, doch auch hier regt sich Unlust am Stillstand, Lust auf hausgemachte nationale Kost. Neue, auch rivalisierende Querverbindungen zwischen den Balkanländem werden sichtbar, slawische Bruderschaften (Prag-Warschau), russisch- (ost)deutsche Sonderbdndungen in der Wirtschaft, versteckte Neigungen, das deutsche Problem aus französisch-europäischer” Sicht zu überdenken, oder gar den Chinesen einen Rückweg offenzuhalten.

Der „fatale” 15. Februar

Tendenzen und Widersprüche — so unvereinbar sie erscheinen, so unwahrscheinlich ist es geworden, daß der kommende sowjetische Parteikongreß noch einmal „richtungweisend” werden könnte wie vor zehn Jahren der zwanzigste, der die Refarmkrise im Weltkommunismus einleitete. Nicht von ungefähr mußte die Moskauer Presse den zehnten Jahrestag dieses Kongresses verschweigen. Nicht weil die sowjetische Führung etwa den Stalinismus zu rehabilitieren gedächte, sondern weil jener 20. Kongreß mit den „liberalen” auch die nationalen Kräfte — von Budapest bis Peking — freisetzte. Eben deshalb aber erinnerte man am 15. Februar in anderen Hauptstädten an das Jubiläum: „Der 20. Kongreß eröffnete eine neue Etappe… er wies die falsche These von der Verschärfung des Klassenkampfes zurück … zerriß den Mythos vom Eisernen Vorhang … wurde zum mächtigen Impuls wichtiger Veränderungen in den Bruderparteien… Er stellte den Grundsatz auf, daß jede Partei selbständig ihre eigene politische Linie festlegt, indem sie die allgemeinen Regeln an die konkreten historischen Bedingungen und spezifischen Eigenheiten des Landes anpaßt”, so feierte die Warschauer „Trybuna Ludu” das Jubiläum und machte mit unverhohlener Sorge Moskau klar, daß es seine Erfolge der letzten zehn Jahre „bis zur Mondlandung” jener großen Wende verdanke.

Der eigene Weg

Das Privileg des „eigenen Weges”, das Gomulka als erster 1956 einheimste und das Rumänien noch acht Jahre später sogar zum außenpolitischen Seitensprung benutzen konnte, hat auf mancherlei Weise Schule gemacht. Auch in Prag, wo es erst spät Wandlungen erzeugte und eine Gesellschaft mit freiheitlichen Vorkriegstraditionen zur Selbstbesinnung brachte, verschwieg man nicht das Jubiläum des 20. Parteitags. Das Parteiorgan „Rude Pravo” pries ihn als „Ereignis von historischer Bedeutung”, weil er den schädlichen Dogmatismus und „ver- alterte Regierungsmethoden” überwunden, die friedliche Koexistenz und den gewaltlosen Übergang zum Sozialismus ermöglicht habe. Doch zugleich warnt das tschechoslowakische Parteiblatt vor „liberalisti- scber Grundsatzlosigkeit”, vor den Hoffnungen, die der Westen auf die ..ideologische Erosion” setze, die der 20. Parteitag einleitete..,

Humaner und sozialer Protest

In Prag sind noch Empfindlichkeiten zu spüren, aktuellere Ängste vor einer Gärung, die in Warschau oder Budapest längst gebremst und kanalisiert, wenn auch nicht gestoppt werden konnte. Worte wie „Liberalisierung” oder „Erosion” verfehlen aber die Eigenart dieses Ferments, das sich gar nicht so sehr aus antikommunistischen Wurzeln nährt, sondern mehr aus dem humanen und sozialen Protest, der einmal Impuls des Marxismus war. Er verbündet sich heute mit Nationalgefühlen (guten und bösen). In Prag war es auch, wo letzten Herbst der Versuch Moskaus scheiterte, noch einmal die Idee der alten Internationale, der Komintern, zu beschwören. „Die Einheit wird nicht durch Beschlüsse eines internationalen Koordinationszentrum geschaffen!” rief dort der Pole Jarosinski und erinnerte im Auftrag Gomulkas an den historischen Sündenfall der Komintern, die 1939 von einem „Krieg zwischen zwei imperialistischen Blöcken” sprach, obwohl dieser Krieg doch „vom ersten Augenblick an ein gerechter, anti-imperialistischer Krieg war” …

Schöpferische Unruhe

Dergleichen braucht nicht „antisowjetisch” ausgedeutet zu werden, und Selbsttäuschung wäre es, wollte der Westen auf Bündniswechsel in Osteuropa hoffen. Es geht um Souveränitäten innerhalb, nicht außerhalb des Bündnisses, um Wandlungen der Allianz- und Herrschaftsformen. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn das polnische ZK-Mitgiied Rakowski in einem eben in Warschau erschienen Buch bemerkt: „Die sozialistischen Länder sind heute weit von einer Stabilisierung. Viel charakteristischer ist für sie sicher die schöpferische Unruhe, der Versuch, Schwierigkeiten und Widersprüche verschiedener Art neu zu lösen.”

Kein 23. sowjetischer Parteitag, keine Vietnam-Solidarität, kein westdeutscher — oder chinesischer Popanz, und erst recht kein Rückfall in Methoden von gestern kann diese Selbtsbestimmung ersetzen. Ihr stärkster Antrieb kommt heute übrigens von Kommunisten, die dort leben, wo Überzeugung vor Macht rangiert: im Westen.

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