Armut - © Foto: iStock / duncan1890

Zum 150. Todestag von Charles Dickens

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Er schrieb viel über Kinder und über das Elend im Schatten von Industrialisierung und Kapitalismus: Charles Dickens starb vor 150 Jahren.

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Er schrieb viel über Kinder und über das Elend im Schatten von Industrialisierung und Kapitalismus: Charles Dickens starb vor 150 Jahren.

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Die Literatur spende Trost, das hörte man ab und zu während des coronabedingten Shutdowns, die Bedeutung für die „Seele“ wurde betont. Lesende aber wissen: Wer mit dieser Erwartung zu Büchern greift, kann auch herb enttäuscht werden. Denn die Funktion von Literatur erschöpft sich beileibe nicht in Trost oder im Ruhigstellen von empörten Gemütern. Und selbst was populistisch und massentauglich, unterhaltsam und spannend geschrieben ist, kann gleichzeitig durchaus auch beinharte Kritik beinhalten, zum Beispiel an bestehenden Verhältnissen.

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Das ist der Fall bei Charles Dickens, dem zum harmlosen Kinderbuchautor entschärften und als Weihnachtsmärchenerzähler verkitschten, zigfach verfilmten Klassiker. Liest man seine umfangreichen Werke heute ungekürzt, kann man schon staunen. Nicht so sehr wegen der Plots, die oft überkonstruiert und manchen wohl auch zu rührselig scheinen (wobei selbst der strenge Vladimir Nabokov einst sagte, das sei keine Rührseligkeit, was da bewirkt werde, sondern intensives Mitgefühl).

Auch nicht wegen der Frauengestalten, die aus heutiger Sicht einmal schwärmerisch überhöht, dann wieder als zänkische Hausdrachen diffamiert werden. (Was vielleicht einiges über Dickensʼ Verhältnis zu seiner jungen Geliebten bzw. zu seiner Frau erzählt, von der er sich auf üble Weise getrennt hat.) Nein, staunen kann man wegen der Stilistik, wegen der unbändigen „Wort-Opern“ und symbolischen Bilderfolgen (so Biograf Hans-Dieter Gelfert) und nicht zuletzt: wegen der messerscharfen Sozialkritik.

Sarkastisch und pointiert

Der am 7. Februar 1812 bei Portsmouth geborene Schriftsteller, Journalist und Herausgeber beginnt seine Karriere als Gerichtsreporter. Er geht in manchen seiner Werke dermaßen sarkastisch mit der Politik seiner Zeit ins Gericht, dass einem beim Lesen die Spucke wegbleibt. Stilistisch pointiert beschreibt er das Unrecht, das Elend, das seine Leserinnen und Leser nicht nur in der Großstadt London tagtäglich sehen oder gar selbst erleben.

Die eigene traumatische Kindheitserfahrung schärft wohl auch seinen Blick für Kinder, zumindest in der Literatur.

Es ist die Zeit der beginnenden Industrialisierung. Nun sei es auch Leuten möglich, die nicht von Geburt her adelig und reich sind, durch Fleiß zu Geld zu kommen, meint man, und im Fall von Dickens trifft das sogar zu. Realität ist aber auch: Die Ausbeutung der einen ermöglicht die Gewinne der anderen. Und was aus Sicht der Utilitaristen für viele nützlich ist, kann für den Einzelnen zur Katastrophe werden. Beispiel Armengesetze und Armenhaus. Charles Dickens thematisiert beides in vielen seiner Werke.

1834 wird der Poor Law Amendment Act beschlossen. Unterstützung gewährt man danach nur mehr jenen, die ins Armenhaus gehen. Dieses stattet man in Kost und Logis so karg wie nur irgendwie möglich aus. Es soll wohl möglichst wenig anziehend sein, man trennt sogar die Ehepaare. Und tatsächlich: Reglementierung und Disziplinierung zeitigen Erfolg. Weniger Leute suchen um Unterstützung an. Dickens durchschaut die Unmenschlichkeit dieses Systems. Auch den zynischen Blick der Reichen auf die im Armenhaus vermeintlich schmarotzenden Armen hält er in seinem Roman „Oliver Twist“ (1837–39) fest: „Den Armen gefiel es dort! Für das niedere Volk war es geradezu eine öffentliche Vergnügungsstätte, ein Wirtshaus, wo man nicht zu zahlen brauchte, gratis Frühstück, Mittagstisch, Teetafel und Abendbrot, das ganze Jahr hindurch, ein steingewordenes Elysium, wo man sich nur verlustierte und nicht zu arbeiten brauchte.“

Dickens - © Foto: iStock / Grafissimo

Charles Dickens

Er gilt als einer der bedeutendsten britischen Schriftsteller. Am 9. Juni 1870 starb der erfolgreiche Vielschreiber.

In Dickens wirkt sein eigenes Trauma. Als zwölfjähriges Kind durfte er nicht mehr in die Schule, musste stattdessen in einer Schuhcremefabrik arbeiten, während sein Vater samt Familie im Schuldnergefängnis einsaß. In Variationen kehrt diese niederschmetternde Erfahrung in Dickensʼ Literatur wieder, und sie prägt wohl auch sein Verhalten als Geschäftsmann: Auf keinen Fall will Dickens je ohne Vermögen dastehen oder seine Familie mit immerhin zehn Kindern nicht ernähren können.

Und so schreibt er eine Fortsetzungsgeschichte nach der anderen, inszeniert seine Lesungen und Lesetouren, verhandelt beinhart Verträge, macht sich mit seinem Einsatz für das Urheberrecht in den USA unbeliebt und hinterlässt bei seinem Tod am 9. Juni 1870 ein Vermögen, das heute umgerechnet einen zweistelligen Millionenbetrag ergäbe.

Blick für Kinder

Die eigene Kindheitserfahrung schärft wohl auch seinen Blick für Kinder, zumindest in der Literatur. Die Kleinen sind seine großen Protagonisten. Sei es David Copperfield, der auch Dickensʼ Initialen trägt und statt in einer Schuhcremefabrik in einer Weinhandlung Etiketten kleben muss, sei es Oliver Twist, sei es Pip in „Große Erwartungen“. Dickensʼ Figuren dienen der Geschichte, der Botschaft, die sie mit sprechendem Namen und durch spezielle Kennzeichen oft karikaturhaft überzeichnet vermitteln.

Dabei verwendet der Autor – etwa bei Fagin in „Oliver Twist“ – auch eindeutig antisemitische Stereotype. Mit der Beschreibung seiner Kinderfiguren aber scheint Dickens der Seele von Kindern sehr nahe gekommen zu sein. In „Große Erwartungen“ fordert ein entlaufener Häftling den kleinen Pip auf, ihm eine Feile und Essen zu bringen, ansonsten würde er ihm Herz und Leber aus dem Leib reißen – wozu er ja, wie die Leser wissen, in gefesseltem Zustand gar nicht imstande wäre.

Dickens erzählt mit dieser Episode, wie man Kindern Angst machen kann, wie real ihnen jede ausgesprochene Drohung wird und wie manipulierbar sie dadurch werden. „Seit jener Zeit, die lange vorbei ist, habe ich oft daran gedacht, wie wenige Erwachsene wissen, was Kinder für Seelenqualen erleiden, wenn man sie in Angst und Schrecken versetzt. Der Schrecken mag noch so unbegründet sein, Schrecken bleibt er.“

Kinder in himmelschreienden Verhältnissen, in aussichtsloser Armut, in unbarmherzigen Waisenhäusern, gedemütigt und geschlagen, verkauft und verraten, alleingelassen und von Bildung ferngehalten: Dickensʼ Literatur legt Zeugnis ab über die ökonomischen und sozialen Verhältnisse im beginnenden Industriezeitalter. Am Wort „Humankapital“ hätte Dickens sich ebenso gründlich abgearbeitet wie an der Redewendung „soziale Hängematte“.

Die Macht des Kapitals, die Ohnmacht der Mittellosen und die Kinder: Das ist bei Dickens ein Thema. So deutlich wie er hat kaum jemand literarisiert, dass man den Zustand einer Gesellschaft nicht nur daran erkennen kann, wie sie mit Geld, sondern vor allem auch, wie sie mit Kindern umgeht.

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