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Ob im Waldviertel oder in der Obersteiermark: Periphere, ländliche Gebiete leiden unter akutem Bevölkerungsschwund. Betroffene, Politik und Kirchen ersinnen verstärkt Strategien, um die Landflucht zu stoppen.

Vielleicht liegt die schlechte Stimmung nur am Novemberwetter - an den Nebelschwaden, die sich durch die Landschaft wälzen, oder am kargen Sonnenlicht. So recht dran glauben will Karl Immervoll nicht. Stärker als der Herbst, mutmaßt der Betriebsseelsorger des oberen Waldviertels, schlägt den Leuten etwas anderes aufs Gemüt: die Abwanderung. Und die hat hier im Norden Niederösterreichs immer Saison.

Die Daten der Volkszählung 2001 bestätigen seine Befürchtung: So liegt der Bezirk Gmünd mit einem Bevölkerungsminus von 3,1 Prozent gegenüber dem Jahr 1991 österreichweit im Spitzenfeld. Dabei werde das wahre Ausmaß des Schwundes durch diese Zahlen noch gar nicht offenkundig, weiß Immervoll: "Wir verzeichnen ja zugleich einen enormen Rückzug an Pensionisten." Fazit: Bereits jetzt kommt im Bezirk Gmünd auf einen unselbständig Erwerbstätigen ein Pensionist. In den Schulen werden junge Menschen bereits Mangelware: "Heuer hat das Schulamt im Vergleich zum Vorjahr fast 100 Religionsklassen verloren", klagt der Seelsorger. In den nächsten sieben Jahren werde sich die Zahl der Hauptschüler sogar halbieren.

Steirische Sorgenkinder

Nicht nur das Waldviertel, auch manche Gegenden der Steiermark sind von personellem Aderlass betroffen. "Von den zehn Gemeinden mit dem größten Schwund sind fünf aus unserem Bundesland", weiß Ines Grabner, in der steiermärkischen Landesstatistik für Bevölkerungsfragen zuständig. Besonders problematisch sei die Situation in der Obersteiermark. So betrage das Minus in den Bezirken Bruck an der Mur und Mürzzuschlag 4,1 Prozent, im Bezirk Leoben sogar 7,6 Prozent.

Eines der ältesten Sorgenkinder ist Eisenerz: Die einst prosperierende Stahlstadt musste seit 1991 einen Bevölkerungsverlust von 17,1 Prozent verkraften - sei es durch weniger Geburten, sei es durch Abwanderung. Und an diesem Trend wird sich nach jüngsten Prognose-Studien der Landesstatistiker bis 2050 nichts ändern.

Mit einer düsten Zukunft rechnet man auch im Wallfahrtsort Mariazell: In der Heimstatt der "Magna Mater Austriae" wurde in den vergangenen zehn Jahren ein Bevölkerungsminus von 11,5 Prozent registriert. Und so verwundert es wenig, dass das Thema Abwanderung viele Diskussionen unter den Einheimischen dominiert. "Die meisten Jugendlichen haben sich schon damit abgefunden, dass sie weggehen werden", schildert Karl Zechner, Obmann der Jugendinitiative "Mariazeller Land", die bedrückende Atmosphäre. Für den langjährigen Jugendarbeiter Grund genug, aktiv zu werden: Seit drei Jahren versucht er mit seiner Initiative, die von fünf Gemeinden finanziert und vom Land unterstützt wird, daheim gebliebene und abgewanderte Jugendliche ins Gespräch zu bringen. Auch die Kreativitätssteigerung ist dem gebürtigen Mariazeller ein Anliegen - nicht zuletzt zur wirtschaftlichen Belebung der Region. Als hauptberuflicher Erfinder geht Zechner selbst mit gutem Beispiel voran: So entwickelte er eine Papierfalztechnik für Büros. Schon im April des kommenden Jahres soll das dazugehörige Gerät in der Gemeinde Gusswerk produziert werden und in der Region Impulse setzen.

Dennoch ist für ihn der Weggang der Jungen verständlich, finden doch viele - außerhalb der Tourismusbranche - keine beruflichen Perspektiven vor. Auch an Freizeitangeboten herrsche Mangel, klagt Zechner: "Außer zwei Dorfdiscos gibt es hier nichts. Deshalb verstehe ich, dass sich viele Jugendliche denken: Nichts wie weg!"

Ein Gedanke, der nach Ansicht der österreichischen Bundesanstalt für Bergbauernfragen junge Menschen in den meisten ländlichen Gebieten Europas beseelt. Erst kürzlich präsentierte man die Ergebnisse des EU-Forschungsprojektes "PAYPIRD" ("Policies and Young People in Rural Areas"), das in Kooperation mit anderen europäischen Forschungseinrichtungen erstellt worden war. Darin wurden in Finnland, Frankreich, Deutschland, Irland, Portugal, Großbritannien und Österreich die Sichtweisen von Jugendlichen in ländlichen Regionen untersucht. Hierzulande nahm man den Bezirk Murau mit einem Bevölkerungsminus von 2,4 Prozent unter die Lupe, erklärt Projektleiter Thomas Dax von der Bundesanstalt. "Fast die Hälfte der Jugendlichen arbeiten außerhalb oder besuchen anderswo die Schule", schildert Dax die Situation vor Ort. Die Abwanderung ist deutlich zu spüren: Von den 30.000 Einwohnern im Bezirk wandern jährlich bis zu 300 ab und versuchen im städtischen Raum ihr Glück. Und nur die wenigsten kehren zurück, weiß Dax: "Hier herrscht dann die Stimmung: Wir sind das Letzte."

Egal ob in Murau oder Nordfinnland: Laut "PAYPIRD" sei die Abwanderung für viele Jugendliche Teil der angestrebten Individualisierung. Zudem könnten in ländlichen Regionen neue, attraktive Berufsbilder nur viel schwieriger aufgebaut werden als im städtischen Bereich. Schließlich sei das Land durch verfestigte institutionelle Strukturen geprägt, die von den Jugendlichen nur schwer verändert werden könnten. Drei gute Gründe, dem Land Adieu zu sagen und in der Stadt sein Glück zu versuchen.

Kirche als Nahversorger

Für den Kärntner Bischof Alois Schwarz eine traurige Entwicklung. Als Zuständiger für den ländlichen Raum in der Österreichischen Bischofskonferenz sieht er die zunehmende Verstädterung mit gemischten Gefühlen. "Ganze Täler veröden, ganze Landstriche werden entvölkert", warnt Schwarz, der selbst aus einer Bauernfamilie in Niederösterreich stammt. Die Kirche könne und müsse beitragen, diese Landflucht zu stoppen. "Kirche wirkt, indem sie Pfarrstrukturen belässt", erklärt Schwarz. "Oft ist sie der letzte Nahversorger in den Dörfern." Es gehe vor allem darum, junge Menschen geistig zu motivieren, das Leben am Land mitzugestalten.

Große Hoffnungen setzt Schwarz auf das "Projekt Sozialwort" der 14 christlichen Kirchen. Schon im vorbereitenden Sozialbericht wird mehr Unterstützung für rurale Gebiete gefordert. Ein Dialogforum aus Kirchenvertretern und Experten soll nun am Freitag, den 8. November, im Bildungshaus des Chorherrenstiftes Vorau über "Die Zukunft des ländlichen Raumes" diskutieren. Veranstalter sind die Katholische Sozialakademie und das Ökosoziale Forum Österreich.

Und was unternimmt die Politik gegen die Landflucht? Äußerst wenig, kritisiert der Waldviertler Betriebsseelsorger Karl Immervoll: "Die Landespolitiker sagen immer, wir sollen die Region nicht krankjammmern. Aber gefördert wird dann wieder nur der Zentralraum." Längerfristige Maßnahmen gegen die Ausdünnung des ländlichen Raumes kamen bisher vor allem von der EU. So wurden im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative "Leader+" in strukturschwachen Gegenden lokale Arbeitsgruppen eingerichtet, die umfassende Belebungsstrategien entwickeln sollten. Den österreichweit 56 Gruppen stehen insgesamt 162 Millionen Euro zur Verfügung. 58 Millionen davon mussten freilich selbst aufgetrieben werden.

Vor allem von der Telearbeit hatten sich viele Gruppen wahre Wunder erhofft. Doch oft blieb das Schlagwort von der "großen Welt im kleinen Dorf" eine Seifenblase. Nicht so im Projekt "Ötztal - mittleres Tiroler Oberinntal". Dort wurde in transnationaler Zusammenarbeit ein privates Call-Center mit 50 Beschäftigten ins Leben gerufen. Auch in Niederösterreich waren findige Geister am Werk. Mit dem Projekt "Kulturpark Eisenstraße" wollte man der von Abwanderung geplagten Region um Waidhofen an der Ybbs und Göstling neue Lebenskraft einhauchen. Geplant ist die Vermarktung typischer Erzeugnisse und ein "Dokumentationszentrum Eisenwurzen". Dass man damit das Schrumpfen der Bevölkerung um bis zu 30 Prozent stoppen kann, ist für den Obmann des Vereins "Kulturpark Eisenstraße", Josef Lueger, eine Illusion. Es gehe eben nur darum, den Trend abzuschwächen.

Mit einem Missstand will "Leader+" in jedem Fall aufräumen: "Klassische Bürgermeistervereine sind bei uns unerwünscht", erklärt Luis Fidlschuster von der Servicestelle der EU-Initiative. "Sonst profitieren wieder nur einzelne Gemeinden". Und diesen Effekt hatte man - zumindest in der heimischen Regionalförderung - lange genug.

Informationen zum "Projekt Sozialwort" und zum Dialogforum "Die Zukunft des ländlichen Raumes" unter (01) 310 51 59 und www.sozialwort.at.

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