Vergessen ist eine notwendige Eigenschaft

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Es muss ernsthaft überlegt werden, ob eine forcierte, permanente Rückschau nicht mehr schadet als nutzt.

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Es muss ernsthaft überlegt werden, ob eine forcierte, permanente Rückschau nicht mehr schadet als nutzt.

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Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde vereinbart: "Beiderseits sollen ... alle Beleidigungen, Gewalttätigkeit, Schaden und Unkos-ten derart gänzlich abgetan sein, dass alles in ewiger Vergessenheit begraben sei." Das kann für die Shoa des 20. Jahrhunderts, die sich in vieler Hinsicht ganz wesentlich vom 30-jährigen Krieg unterscheidet, nicht gelten. Dennoch: Vergessen ist eine notwendige menschliche Eigenschaft, um individuelle und kollektive Leiden zu ertragen. Ich weiß aus eigenem Erleben: Wer monatelang völlig hilflos, künstlich beatmet und ernährt, doch bei vollen Sinnen in der Intensivstation liegt, wäre später nicht imstande, ein normales Leben zu führen, würde er alles, was er durchmachte, in Erinnerung behalten.

Es stellt sich die Frage, ob nicht die Forderung, furchtbare Erlebnisse in allen Einzelheiten ständig ins Bewusstsein zu rufen, diesem lebens-erhaltenden Prinzip zuwiderläuft. So zweifelt Heinz Kienzl in einem länger zurückliegenden Gastkommentar in der Presse, "ob wir mit dem Schwur, niemals vergessen, nicht gegen die menschliche Natur verstoßen, die seelisch gesunden Menschen die Wohltat des Vergessens schrecklicher Ereignisse gewahrt". Auch Robert Menasse hat dazu in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung ("Sterbensworte") Stellung genommen. Er fragt: "Muss ich das mit immer neuen Details unterfüttert bekommen? Muss ich mir das immer wieder aufs Neue vorführen lassen? Muss ich das alles wissen? Kurz: Muss man alles wissen, um zu wissen?"

Nun widerspricht aber "Vergessen" - insbesondere im Sinne von Verzeihen - in gewissem Sinne der jüdischen Vorstellungswelt, was angesichts der leidgeprüften Geschichte dieses großen Volkes nicht überraschen sollte. Zu den wichtigsten Erinnerungsgeboten der Thora zählt, sich an den Erzfeind Amalek zu erinnern. In Paris steht das Monument eines unbekannten jüdischen Märtyrers mit französischer und hebräischer Inschrift. Der französische Text appelliert an Mitgefühl und Respekt: "Erweise dem unbekannten jüdischen Märtyrer deinen Respekt, dein Mitgefühl für alle Märtyrer." Der hebräische Text dagegen verpflichtet mit dem Bibelzitat das kollektive Gedächtnis: "Erinnere dich, was dir Amalek angetan hat." (Dtn 25,17-19) Wer diesen Aspekt mit seinen Auswirkungen zur Diskussion stellt, läuft Gefahr, Applaus aus der falschen Ecke zu erhalten. Keinesfalls soll damit jenen Kreisen Material geliefert werden, die glauben, mit der Forderung "Schluss nach mehr als 50 Jahren" Geschehenes ungeschehen machen zu können. Es gibt zwar keine Kollektivschuld, wohl aber eine Kollektivscham, so wie es ja auch eine kollektive Freude gibt, wenn zum Beispiel eine Nation bei sportlichen Großereignissen die beste Mannschaft stellt. Und was im Guten gilt, muss auch im Bösen gelten.

Die nicht vergleichbare Größe des Verbrechens der Shoa verleitet dazu, unliebsame Auffassungen und unbequeme Andersdenkende unabhängig vom konkreten Gegenstand mit dem Auschwitzargument zu erledigen. Man kann mit einigem Geschick jeden sachlichen Einwand, das Urteil über ein Theaterstück, ein Mahnmal, eine Fernsehsendung, eine politische Meinung, eine historische Interpretation zunichte machen, indem Unverständnis für die größte europäische Katastrophe des 20. Jahrhunderts unterstellt wird. Wer das macht, nimmt allerdings in Kauf, dass Tatsachen nicht wahrgenommen, Emotionen nicht mitgeteilt, Konflikte nicht ernsthaft ausgetragen werden; sie wirken dann unter der Oberfläche weiter.

Nochmals, um jeder Fehlinterpretation den Boden zu entziehen: Es geht nicht darum zu vergessen, was wir anderen angetan haben. Ob aber eine forcierte, permanente Rückschau, die überdies den Blick auf die notwendige Auseinandersetzung mit dem Bösen heute, hier und jetzt, verstellen kann, dabei nutzt oder sogar schadet, muss ernsthaft überlegt werden.

Der Autor ist freier Publizist.

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