Von der Erbsensuppe zur Tiefkühlpizza

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Der Mensch ernährt sich nach kulturellen Mustern, die sich ständig wandeln. Ein kurzer Streifzug durch die mitteleuropäische Esskultur der Nachkriegszeit. Mit dem Kult und der Kultur des Essens beschäftigte sich die diesjährige Sommerakademie des Studienförderungsprogramms Pro Scientia. Die Geschichte des Essens und der Esskultur (Seite 21) ist untrennbar mit der Geschichte des Hungers verbunden (Seite 24). Dabei kann die Bedeutung des Essens nicht auf die zum Überleben notwendige Nahrungsaufnahme reduziert werden: Die Mahlzeit ist ein wichtiger Bestandteil sowohl der religiösen (Seite 22) als auch der sozialen Ordnung (Seite 23). Redaktion: Veronika Thiel

Essen ist immer und überall allgegenwärtig. Jeder Mensch isst mehrmals täglich, das ganze Leben lang. Bei durchschnittlicher Lebenserwartung nimmt zum Beispiel der Österreicher der Gegenwart innerhalb seines Lebens etwa 80.000 Mahlzeiten ein. Rechnet man Kaffee und Kuchen hinzu, dann ergeben sich bereits rund 105.000 Mahlzeiten. Bei einer durchschnittlichen Dauer von 30 Minuten bringen die modernen Mitteleuropäer sechs Jahre ihres Lebens damit zu, Mahlzeiten einzunehmen. Addiert man die Zubereitungszeit, so kommt man leicht auf zehn Jahre. Zudem wird Essen von allen Menschen, in allen Religionen und zu allen Zeiten praktiziert. Daher spricht man in den Kulturwissenschaften auch von einem sozialen Totalphänomen.

Soziales Totalphänomen

Da Kultur prinzipiell dynamisch und komplex strukturiert ist, hat keine Gesellschaft eine einheitliche Esskultur herausgebildet. Immer gab es und gibt es ein großes Nebeneinander, große Unterschiede in regionaler Hinsicht, in der sozialen Schichtung und zwischen den Geschlechtern und den Altersgruppen.

Prinzipiell ist das Individuum frei - jeder kann essen, was er will. Die theoretischen Freiheiten können jedoch nicht ausgeschöpft werden, denn der Mensch ist in hohem Maße Gefangener seiner kulturellen Umwelt, in der er lebt. Das vermag die historische Dimension in besonderem Maße zu belegen: So werden Vortragende zum Beispiel heute mit einem Glas Wasser versorgt, obwohl sich Veranstalter mehr leisten könnten. Im 19. Jahrhundert hätte man einem Vortragenden statt des Wassers eher Wein gereicht, im 18. Jahrhundert sogar einen Branntwein. So stellt jede Zeit ihre eigenen Regeln auf, und möglicherweise versorgen die Veranstalter die Referenten in fünfzig Jahren mit einem gentechnisch manipulierten Energy-Drink, der Kraft gibt, die Laune hebt und zudem Herzinfarkten vorbeugt.

Warum essen wir also das, was wir essen? Es gibt eine breite Palette von Bedingungsfeldern, die letztlich bestimmen, was, wie, wann und wo wir essen. Diese Palette reicht vom Wetter über die modernen Medien und die Zyklen der Konjunktur bis zur Religion, wenn Kantinen zum Beispiel freitags Fisch anbieten oder wenn Moslems kein Schweinefleisch essen.

Essen wider Wissen

Wenn wir essen, sind uns die meisten dieser Bedingungsfelder nicht bewusst. Die Logik der Esskultur lässt sich entschlüsseln, aber nur auf Distanz - der Einzelne handelt irrational. Eine breite Lücke klafft zwischen dem Wissen der Menschen um die Nahrung und der täglichen Praxis der Ernährung. Und diese Lücke folgt, wie alles in der Kultur, wieder spezifischen kulturellen Mustern. Auf der einen Seite stehen beinahe allen Menschen genügend Informationen und Produkte zur Verfügung, um sich optimal ernähren zu können, aber die Alltagskost entspricht diesem Wissen nur selten: Unsere tägliche Nahrung besteht häufig aus Tiefkühlpizza, Schokoriegeln, chemiebelastetem Kopfsalat und Bratwurst. Dies sind wesentliche Bestandteile der österreichischen Alltagskost des frühen 21. Jahrhunderts, obwohl sie in einem absurden Widerspruch zu den Ergebnissen der modernen naturwissenschaftlichen Ernährungsforschung stehen.

Emotionale Sicherheit

Der Mensch hat ein grundsätzliches Bedürfnis, und zwar den Hunger. Dem steht dessen Befriedigung gegenüber, Essen und Trinken. Dazwischen ist das kulturelle System der Esskultur platziert. Dabei befriedigt der Mensch seinen Hunger so gut wie ausschließlich mit tradierten oder kulturellen Methoden. Darüber hinaus spielt eine Komponente eine wichtige Rolle, und zwar die Psychologie, denn zu den wichtigsten Funktionen des Essens gehört, dass es emotionale Sicherheit verschafft. Deshalb greifen wir beim Essen so gerne auf Bekanntes zurück, und wenn wir etwas Neues probieren, dann würzen wir es so wie das Bekannte und essen auf diese Weise meist das gleiche.

Der Aspekt Psychologie spielt auch eine überragende Rolle bei der Analyse der Themenkreise Scham, Sucht und Ess-Störung. Auch hier lässt sich eine extreme Abhängigkeit von den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Normen beobachten. Wir glauben heute, dass nur unsere Gesellschaft diesen Druck ausübt; aber so unerträglich das Diktat des Jugendkultes und der Fitness auch sind, das Werbung und Industrie uns auferlegen - derartige Muster kennt auch die Vergangenheit:

Der Kaufmann des Spätmittelalters musste dick sein, denn nur der Erfolglose war dünn, und der Handwerksbursche des 18. Jahrhunderts musste oft und viel Alkohol trinken, sonst wäre er als Mann nicht akzeptiert worden.

Essen und Trinken werden durch die Esskultur zum gesellschaftlichen Operationsgefüge. Es sind Instrumente, an denen wir uns orientieren, und auch Mittel der Kommunikation: Kein Treffen von Politikern ohne gemeinsames Essen, denn vor allem das schafft einen gemeinsamen Erlebnishorizont - mit wem ich zusammen esse, der ist nicht mein Feind!

Wer heute die Esskultur seit dem Ende des zweiten Weltkriegs betrachtet, wird meist zum Schluss kommen, dass es noch nie so viel Wandel gab; innerhalb einer Generation sind Tiefkühlkost, Pizza und Gyros, Bio-Nahrung, Gen-Tomate und Functional Food hinzugekommen. Darüber hinaus ist die Mahlzeit als Kernelement gemeinsamen Speisens auf dem Rückmarsch. Wir essen alleine und isoliert, weil wir so auch leben. Schließlich haben viele von uns den Bezug zur Nahrung verloren, und die Kinder in der Stadt glauben nicht, dass die Milch aus einer Kuh herauskommt, weil sie doch immer im Kühlregal steht.

Ständig im Wandel

Noch nie so viel Wandel innerhalb einer Generation? Ganz entschieden nein. Solch ein Wandel ist allgegenwärtig in der Geschichte. Allerdings gibt es Zeiten beschleunigten Wandels - wie jetzt - und Zeiten der Stagnation.

Das Jahr 1945 bedeutete für ganz Europa eine Zeitwende. Die historische Analyse zeigt zwar, dass Nahrungssysteme eher schwerfällig auf Neuerungen reagieren und dass die Menschen bestrebt sind, am Bewährten festzuhalten, aber auch die Nahrungssysteme konnten sich der radikalen Veränderung der materiellen Lebensbasis 1945 nicht entziehen.

Neu war zunächst vor allem der Hunger, und das in einer neuen Dimension. Das "Hamstern" wurde auf Jahre zur wichtigsten Überlebensstrategie. Zum Hunger kam eine weit verbreitete Identitätskrise hinzu: Viele alte Werte galten nicht mehr, die neuen waren noch nicht gefunden. Um emotionale Sicherheit durch bewährte Verhaltensmuster zu bekommen, konnte zwar nicht auf materielle Komponenten zurückgegriffen werden, wohl aber auf Mahlzeitenfolge, Sitzordnung oder Tischgebet, die ebenso einen wichtigen Bestandteil der Esskultur darstellen. Unter diesem Blickwinkel wird deutlich, dass die Wahrung traditioneller Muster eine überragende Bedeutung im Prozess der Identitätsbildung erlangte.

Der Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre brachte dann nicht nur eine drastische Steigerung des Nahrungsmittelkonsums, die so genannte Fresswelle, sondern dem Haushalt eine totale Technisierung. Die größten Änderungen waren Folgen der neuen Kühltechnik, die eine grundlegende Umstellung des Nahrungsangebots nach sich zog.

Imbisskultur und Fast Food

Weitere Impulse erfuhren die Nahrungssysteme der 1960er Jahre auch durch die Imbisskultur. Der fundamentale Wandel vollzog sich in der britisch und der amerikanisch besetzten Zone: Dort tauchten nun Soldaten auf, die es gewöhnt waren, im Gehen zu essen - ein Essverhalten, das bis dahin absolut unüblich war. Mit der Eröffnung der ersten McDonald's Filiale in Deutschland 1971, in Österreich 1977, löste sich die noch scharfe Trennlinie zwischen der Imbisskultur und den Restaurants auf.

Die Reisewelle der 1960er Jahre brachte Spaghetti und Pizza, später auch Gyros - also weite Bereiche der österreichischen Gegenwartsküche. Aber zunächst gab es noch eine Kontinuität alter Tisch- und Mahlzeitenordnung. Auf dem Tisch war also alles neu, aber bei Tisch galt noch die alte Devise: "Solange Du die Füße unter meinen Tisch steckst ...", also die bürgerlichen Erziehungsmuster des 19. Jahrhunderts. Erst die Studentenunruhen der Jahre um 1968 und die entsprechenden soziokulturellen Folgen erschütterten die alten Mahlzeitenordnungen dann fundamental.

In den 1970er Jahren brachte die Ölkrise Umweltbewusstsein und Ökologiebewegung. Gleichzeitig sorgten Industrie und Globalisierung für eine extreme Erweiterung des Angebots. Der Bedeutungszuwachs der Fertiggerichte rührt hingegen daher, dass die Bedeutung der Familie als Kernelement der Gesellschaft abnimmt.

In den 1990er Jahren wurde das Angebot schließlich noch durch das Functional Food, worunter man Nahrungsmittel versteht, die durch Zugabe bestimmter Nährstoffe oder Zutaten so modifiziert wurden, dass sie spezifische gesundheitliche Nutzen beziehungsweise Vorteile erbringen sollen.

Im Augenblick ist der Wandel so groß, das wir von einer Wendezeit sprechen können. Das zeigt sich etwa am Fleischverbrauch: Bis zum 20. Jahrhundert lässt sich das Wachstum des Wohlstands einer Gesellschaft prinzipiell am Fleischverbrauch ablesen. Erst seit wenigen Jahren kehrt sich dieser Trend in der europäischen Geschichte erstmals um. Alkoholkonsum und Fleischverbrauch sind in vielen Ländern Mittel- und Nordeuropas bei wachsendem Wohlstand rückläufig.

Auch andere Indikatoren lassen auf eine Wendezeit schließen: Im Laufe der Geschichte wurden die Esswerkzeuge und Bestecke immer differenzierter und aufwändiger - heute dagegen wird ein großer Teil des Essens, ähnlich wie in der Steinzeit, als "Fast Food" aus der Hand gegessen. Und obwohl eine zunehmende Differenzierung des Angebots zu beobachten ist - das durchschnittliche Lebensmittelgeschäft führt an die 10.000 Produkte, 1950 waren es knapp 1400 - wird die Varianz der konsumierten Gerichte eher schmaler.

Wendezeit 20. Jahrhundert

Die Möglichkeit der individuellen Entfaltung ist so groß wie nie zuvor, und dennoch lässt sich ein Trend beobachten, den der Soziologe Herbert Marcuse schon in den 1960er Jahren beschrieben hat: In dem Maße, in dem das Individuum zusätzliche Möglichkeiten zur Entfaltung seiner Persönlichkeit gewinnt, verliert es die Fähigkeit, diese Möglichkeiten zu nutzen.

Warum essen wir nicht ständig abwechslungsreich und erfinden immer wieder neue Kompositionen - bei 10.000 Produkten im Supermarkt? Weil das Unbekannte eben keine emotionale Sicherheit bringt, und deshalb greifen wir lieber auf die Erbsensuppe der Kindheit oder die Tiefkühlpizza der Jugendzeit zurück.

Der Autor ist

Privatdozent für Volkskunde

an der Universität Bonn.

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